Hamburg. Wenn Autos in Geschäfte rasen: In der Waitzstraße kommt es seit Jahren zu besonders vielen Unfälle. Eine Analyse.

Anfang Dezember 2018 herrschte an der Waitzstraße Hochstimmung. Nach rund 18 Monaten waren umfangreiche Bauarbeiten abgeschlossen, das „Waitz-Quartier“ wurde offiziell eröffnet. Die Einkaufsstraße auf der Grenze zwischen Groß Flottbek und Othmarschen präsentierte sich nun deutlich schicker – und scheinbar auch sicherer.

Über Jahre waren immer wieder zumeist betagte Fahrerinnen und Fahrer mit ihren Autos in die Schaufenster der angrenzenden Geschäfte gerast, manchmal bis in den jeweiligen Verkaufsraum hinein. 2005 hatte es eine Weinhandlung erwischt, 2007 eine Reinigung, 2008 einen Optiker, 2016 ein Restaurant.

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Vier Beispiele von vielen. Die diversen Einparkunfälle, die der Straße bundesweit jede Menge negative Schlagzeilen eingebracht hatten, sollten nun Vergangenheit sein – dank einer neuen Kombination aus Bügeln, Bänken und Pollern, die zwischen den Parkbuchten und dem Fußweg in den Boden eingelassen waren. Viele glaubten damals fest an dieses Konzept, einige hofften auch nur inständig, dass der oft zitierte „Fluch der Waitzstraße“ vorbei sein würde.

Die Kombination von Autofahren und Waitzstraße wurde zur Zielscheibe von Spott und Kritik

Doch dann wurde schnell überdeutlich, dass der frisch installierte Schutz nicht ausreichte. Im März 2019 traf es ein Friseurgeschäft, im Mai einen Bekleidungsladen. Fast genau ein Jahr später wurde die Fassade einer Bank zerstört, nur zwei Monate später – beim mittlerweile 23. Unfall dieser Art – war wieder der Friseur betroffen.

Unfälle in der Waitzstraße – wann es zuletzt gekracht hat:

  • 29. Oktober 2020: Seniorin kracht mit Auto in Juwelier
  • 23. Juli 2020: 71-jährige BMW-Fahrerin fährt in Friseursalon Möller
  • 30. Mai 2020: 81-Jähriger fährt mit Pkw in HNO-Praxis
  • 21. August 2019: 82-Jähriger fährt in Auslagen eines Blumenladens
  • 20. Mai 2019: 83-Jährige kracht mit mit Mercedes in Mode-Boutique
  • 30. März 2019: Ältere Dame kracht mit Mercedes in Friseursalon von Marlies Möller

Die Kombination von Autofahren und Waitzstraße wurde nun erst recht zur Zielscheibe von Spott und Kritik. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb über „Deutschlands größten öffentlichen Verkehrsübungsplatz für Senioren“, und in einer Satiresendung wurde vorgeschlagen, die Parkplätze vor Ort doch am besten direkt in die Ladengeschäfte zu verlegen.

Warum trifft es immer wieder die Waitzstraße?

Da ist zunächst die Straße selbst. Dass sich hier Laden an Laden reiht und auf der nördlichen Seite auch Schrägparkplatz an Schrägparkplatz, ist mittlerweile bundesweit bekannt. Doch man muss einige Male durch die Straße gefahren sein, um das eigentliche Problem zu verstehen. Zum einen schleichen fast ununterbrochen Autos in Zeitlupe durch die Tempo-20-Zone, viele – nach mehreren Runden um den Block – mehrfach hintereinander. Da die meisten Fahrerinnen und Fahrer nur relativ kurze Zeit parken, ist – positiv beschrieben – die Wahrscheinlichkeit hoch, relativ zügig einen Parkplatz zu ergattern.

Zugleich bedeutet es aber, dass – negativ beschrieben – vor Ort ein ständiges An- und Abfahren mit fast ununterbrochenem Ein- (vorwärts) und Ausparken (rückwärts) das Bild bestimmt. Kleine Staus sind an der Tagesordnung, genau wie häufiges Gehupe. Viele Fahrerinnen und Fahrer wirken gereizt.

Dass die Einbahnstraße mittlerweile von Radfahrern auch in der entgegengesetzten Richtung befahren werden darf, macht die Lage nicht gerade übersichtlicher. Fazit: Die Waitze fordert die Verkehrsteilnehmer stärker, als es auf den ersten Blick scheint.

Hier soll es die größte Arztdichte Hamburgs geben

Auf diese Gemengelage treffen die Autofahrerinnen und –fahrer, von denen nicht wenige, auch das ist bekannt, im fortgeschrittenen Alter sind. Einen Großteil der Schaufensterunfälle haben sie verursacht – und sich damit neben jeder Menge Spott auch viel Kritik eingehandelt. Zu dusselig und zu alt zum Autofahren, zu halsstarrig, um auf den Pkw zu verzichten seien diese Menschen. So lautet der Tenor der Kritik, die rauf und runter wiederholt wird – auch in vielen Zuschriften, die das Abendblatt erreichten. Wer so hart urteilt, macht sich eines nicht klar: Viele dieser Fahrerinnen und Fahrer sind nicht mehr rüstig genug, um öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.

Unfallschwerpunkt Waitzstraße: Die Bilder einzelner Vorfälle

Unfallschwerpunkt Waitzstraße: Die Bilder einzelner Vorfälle

Auch bei diesem Unfall in der Waitzstraße hatte eine Seniorin die Kontrolle über ihren Mercedes verloren und war in ein Geschäft gerast.
Auch bei diesem Unfall in der Waitzstraße hatte eine Seniorin die Kontrolle über ihren Mercedes verloren und war in ein Geschäft gerast. © Michael Arning
Unfallschwerpunkt Waitzstraße: Erneut ist ein Auto in der beliebten Einkaufsstraße in Groß Flottbek in die Schaufensterscheibe eines Geschäfts gekracht.
29. Oktober 2020: Eine 81 Jahre alte Fahrerin fährt mit ihrem VW Polo beim Einparken in die Schaufensterscheibe des Juweliergeschäfts Schreiber. © Michael Arning
Unfall an der Waitzstraße im Februar 2015: Eine 77-Jährige krachte mit einem BMW durch die Fensterscheibe einer Volksbank-Filiale.
Unfall an der Waitzstraße im Februar 2015: Eine 77-Jährige krachte mit einem BMW durch die Fensterscheibe einer Volksbank-Filiale. © TVR-NewsNetwork
Unfall an der Waitzstraße
Ende März 2019 fuhr eine ältere Dame in den Friseursalon "Marlies Möller". © TV News Kontor
Im Mai 2019 stand der Mercedes einer Seniorin vollständig in einem Geschäft an der Waitzstraße. Die Fahrerin musste ihren Führerschein abgeben.
Im Mai 2019 stand der Mercedes einer Seniorin vollständig in einem Geschäft an der Waitzstraße. Die Fahrerin musste ihren Führerschein abgeben. © Michael Arning
Absperrbügel aus Metall  hielten Autos in der Vergangenheit nicht stand: Im Sommer 2019 beauftragte das Bezirksamt Altona eine Prüfung der Sicherungselemente an der Waitzstraße.
Absperrbügel aus Metall hielten Autos in der Vergangenheit nicht stand: Im Sommer 2019 beauftragte das Bezirksamt Altona eine Prüfung der Sicherungselemente an der Waitzstraße. © Hinnerk Blombach
Eine Autofahrerin fuhr am Sonnabendvormittag in einen Hauseingang in der Waitzstraße.
Auch im Mai 2020 kam es zu einem Unfall: Ein 81 Jahre alter Mann fuhr mit seinem Toyota Yaris in den Hauseingang einer HNO-Praxis und blieb dort stecken. © HA | Michael Arning
Ein Polizist unterhält sich mit der Fahrerin, wie es zu dem erneuten Unfall in der Waitzstraße kommen konnte.
Am 23. Juli 2020 kam es zum insgesamt 23. Unfall in der Waitzstraße: Eine 71 Jahre alte Fahrerin fuhr in die Fassade des schon früher betroffenen Friseursalons "Marlies Möller". © Michael Arning
Erst die Schaufensterscheibe der Haspa-Filiale konnte den Mini stoppen.
4. Mai 2021: Erst die Schaufensterscheibe der Haspa-Filiale konnte den Mini in der Waitzstraße stoppen. © HA | Michael Arning
Wieder die Waitzstraße: Ein Autofahrer ist mit seinem BMW in Tische und Stühle eines Cafés gekracht. Immer wieder kommt es an der Einkaufsstraße in Hamburg zu derartigen Unfällen.
21. Dezember 2022: Ein Rentner ist mit seinem BMW-SUV in Tische und Stühle eines Cafés gekracht. © TV News Kontor
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Die Fahrt mit dem Auto fällt ihnen leichter als der Gang zu Bus und Bahn, der als immer beschwerlicher wahrgenommen wird. Und wer es für „kinderleicht“ hält, in der Waitzstraße problemlos ein- und auszuparken, ist selbst am Steuer mit Sicherheit deutlich wendiger und reaktionsschneller als diejenigen, die für das Gros der Einparkunfälle verantwortlich ist.

„Man muss die Kirche auch mal im Dorf lassen“, sagt Andreas Frank von der Interessengemeinschaft (IG) Waitzstraße. „Diese Menschen machen ja keine langen Überlandfahrten mehr, sondern sie kommen auf einen Sprung in ,ihre’ Straße, die sie kennen und in der sie sich gut aufgehoben fühlen.“

47 Ärztinnen und Ärzte im Umkreis der „Waitze“

Angesteuert werden Einzelhändler, Banken, Drogeriemärkte und Bäckereiketten – aber nicht nur. Die Kassenärztliche Vereinigung nennt 47 Ärztinnen und Ärzte im Umkreis der „Waitze“. Hinzu kommen jede Menge Privatpraxen – und Apotheken. Vor Ort soll es die höchste Ärztedichte Hamburgs geben, auch bundesweit belegt die Straße einen Spitzenplatz. Längst nicht alle Senioren fahren auf eine Tasse Kaffee mit dem Auto zur Waitzstraße, sondern weil ein Arzttermin sie dazu zwingt. Bei manchen sind es auch mehrere pro Woche.

So geht es Gerd Walter, der seine schwer kranke Frau regelmäßig zum Arzt fahren muss. „Mir wird immer wieder gesagt, ich solle doch eine Taxe nehmen“, so der 75-Jährige aus dem nahe gelegenen Othmarschen. „Aber von einigen Fahrern wurden wir – und auch Bekannte – schon angemault, weil denen die Strecke zu kurz ist. Andere wollten meiner Frau auch nicht aus dem Fahrzeug helfen.“ Walter fährt also weiter mit dem Auto – so wie viele andere auch.

Einer, der die Geschehnisse vor Ort gut kennt, seinen Namen dazu aber nicht in der Zeitung lesen möchte, zückt beim Gespräch mit dem Abendblatt sein Smartphone und zeigt ein Foto, das alles andere als lustig ist. Zu sehen ist eine auf dem Fahrersitz ihres Autos kauernde alte Dame, die mit geballter Faust und zusammengekniffenen Augen auf den Fotografierenden einredet. Das Foto entstand unmittelbar, nachdem die Frau an der Waitzstraße einen Unfall verursacht hatte.

Das Autofahren aufzugeben fällt vielen Senioren schwer

Deutlich ist an ihrem Handgelenk ein Notruf-Armband samt entsprechendem Knopf zu erkennen, mit dem laut Werbung „alte und beeinträchtigte Menschen“ schnell Hilfe rufen können. Von einer anderen orientierungslosen Frau berichtet der Augenzeuge, die nach einem von ihr verursachten Unfall der eingetroffenen Polizei ihren Führerschein nicht geben wollte und deren Handtasche, so die Schilderung, „randvoll“ mit stark wirkenden Medikamenten gewesen sei. Anlass für Kritik und Häme sollte das nicht sein. Eher ein Anreiz für Angehörige, Nachbarn und Ärzte, einmal darauf zu achten, wer in welchem Zustand per Auto zur Waitzstraße aufbricht.

Altonas Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg begutachtete im November  die neuen Poller, die die Geschäfte an der Waitzstraße vor weiteren Unfällen schützen sollen.
Altonas Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg begutachtete im November die neuen Poller, die die Geschäfte an der Waitzstraße vor weiteren Unfällen schützen sollen. © HA | Roland Magunia

Hinzu kommt aber noch etwas anderes. Wer über viele Jahrzehnte ein selbst bestimmtes Leben geführt und für sich, die Angehörigen und die Gesellschaft viel geleistet hat, ist nicht mal eben bereit, das Steuer aus der Hand zu geben – auch nicht das des eigenen Autos. Viel Fingerspitzengefühl bei diesem Thema beweist Altonas Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg (Grüne).

Offen berichtete sie dem Abendblatt von der großen Mühe, die es sie gekostet hat, ihren Vater vom Autofahren abzubringen – auch und gerade in Richtung Waitzstraße. Viele Gespräche seien dazu nötig gewesen, und nur langsam habe sich schließlich ein schmerzlicher Erkenntnisprozess entwickelt. „Sich selbst prüfen“ und „in sich hineinhören“ sollten betagte Autofahrerinnen und -fahrer, findet von Berg, doch nicht jeder hat eine aufmerksame, hartnäckige Tochter oder einen verantwortungsvollen Arzt, der oder die den entsprechenden Anstoß geben und dann auch am Ball bleiben.

Letztlich ist es egal, wie die Unfälle zustande kamen

Für die vielen Schaufensterunfälle, die nicht nur einzelne Läden, sondern auch das Image der Waitzstraße ramponiert haben, gibt es viele Zeugen – und ebenso viele Erklärungen. Die häufigste: Während Seniorinnen oder Senioren rückwärts ausparken, lösen vorbeifahrende Autos immer wieder Warnsignale aus, sodass die alten Menschen, manche offenbar in Panik, wieder vorwärts fahren und dann zu viel Gas geben. Andere sollen bereits viel zu zügig in die Parkbuchten hineinfahren, mutmaßlich, weil sie beim Abbremsversuch versehentlich aufs Gaspedal drücken. Von verkeilten Schuhen ist vor Ort die Rede, von plötzlichen Blackouts und Panikattacken.

Letztlich ist es aber auch egal, wie die Unfälle zustande kamen. Sie sind geschehen – nicht, weil auf der Straße ein Fluch lastet, sondern weil die Menschen, die hier parken wollten, es eben nicht besser hinbekommen haben.

Die lokalen Grundeigentümer investierten rund 650.000 Euro

Die Freude über die immer wieder neu gestaltete und gesicherte Einkaufsstraße und der optimistische Blick nach vorne sind bei den Geschäftsleuten nicht gänzlich verflogen, aber mittlerweile herrscht vor Ort viel Ernüchterung. „Zu dem Thema ist schon alles gesagt worden“, findet der Bürgernahe Beamte, und Metzger Dirk Hübenbecker, der sich seit Jahren für das Wohl der „Waitze“ engagiert, sagt: „Wir haben hier viel Gutes erreicht, daran müssen wir anknüpfen.“

Viele hier irritiert, dass es auch für die mühselige Umgestaltungen Kritik von außen gibt. „Da ist auch Sozialneid herauszuhören“, sagt ein Geschäftsmann, „das haben wir nicht verdient.“ Fakt ist: Für den vor mehr als zwei Jahren abgeschlossenen Umbau im Rahmen eines BID (Business Improvement District) waren die Kosten genau so aufgeteilt worden, wie das bei allen BID in Hamburg gemacht wird.

Die lokalen Grundeigentümer investierten damals rund 650.000 Euro. Die unerwartet lange, zeitweise nur schleppend vorankommende Umbauphase strapazierte zudem die Kassen der Einzelhändler erheblich – verlorenes Geld, das beim Spott über die „reiche“ Waitze buchstäblich niemand auf Rechnung hat.

Allein die Nachrüstung mit Pollern kostete 150.000 Euro

Im Nachhinein ist es überhaupt leicht, von einem falschen Umbau-Konzept zu sprechen. Ausgeblendet wird dabei oft, dass die erste, völlig transparent geplante Umgestaltung den Boulevardcharakter der Straße unterstreichen sollte, so wollten es alle Beteiligten. Nur: Den erlangt man eben nicht mit dem Einbau von Sperrwänden und Betonklötzen. Das Gefahrenpotenzial wurde mangels vergleichbarer Fälle schlichtweg unterschätzt – vor allem die Intensität, mit der hier Gas gegeben wird.

Ein eingesetzter Vollstahlpoller vor einem Baustellenfahrzeug an der Waitzstraße.
Ein eingesetzter Vollstahlpoller vor einem Baustellenfahrzeug an der Waitzstraße. © dpa

Auch die rund 150.000 Euro teure Nachrüstung mit 60 zusätzlichen Stahlpollern, die erst im vergangenen November abgeschlossen wurde, war kein beliebiges Nachschießen von Geld, um eine (einfluss)reiche Klientel zufrieden zu stellen, sondern die Korrektur einer missglückten Baumaßnahme unter Federführung des Altonaer Bezirksamts, auf die jeder Bauherr ein Anrecht hat.

Dass es künftig an der Waitzstraße keine Einparkunfälle mehr geben wird, glaubt eigentlich niemand, der sich dort auskennt. Aber die Vorstellung, dass dank der neuen Pfosten die Autos künftig zumindest nicht mehr in Ladengeschäfte rasen werden, ist realistisch.

Manche vor Ort sind fest davon überzeugt, andere hoffen bloß inständig darauf.