Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider stimmt alle Hamburgerinnen und Hamburger auf das neue Jahr ein – mal launisch, mal ernst.
Liebe Freundinnen und Freunde des Hamburger Abendblatts,
Eigentlich ist heute mein Homeoffice-Tag … aber wir haben uns gedacht: Neues Jahr, neuer Ort, neuer Geschäftsführer, da ist es vielleicht ganz gut, wenn hier vorn einer steht, an den sich der eine oder die andere von Ihnen noch erinnern kann.
Es ist drei Jahre her, dass wir in dieser vertrauten Runde zusammengekommen sind, und ich habe noch einmal in meine wirklich wegweisende Rede aus 2020 gesehen, und worüber ich nicht gesprochen habe. Kein Wort über Corona, nichts über Nord-Stream 2, nicht mal eine Warnung vor Cosco.
Dabei standen der heutige Bundeskanzler, der heutige Vizekanzler und die heutige Bundesaußenministerin dort, wo Sie jetzt stehen – aber irgendwie waren wir damals alle eher mit Themen wie autofreie Innenstadt, Fahrradstraßen und vegetarischer Ernährung beschäftigt, liebe Freund:innen (der dauert ein bisschen).
Solche Probleme hätten wir jetzt gern.
Wenn Sie sich fragen, wo Olaf Scholz heute ist – das frage ich mich auch. Er hatte mir als Hamburger Bürgermeister zugesagt, dass er auch zu unserem Neujahrsempfang kommen würde, wenn er eines Tages Bundeskanzler sein sollte, woran außer ihm (und mir) keiner ernsthaft geglaubt hat. Aber als ich ihn bei einem Besuch im Kanzleramt vor ein paar Wochen auf sein Versprechen ansprach, sagte er nur: „Ich kann mich nicht erinnern …“ Kleiner Scherz.
Wo wir gerade bei Olaf Scholz sind: Ich habe ja die Corona-Zeit genutzt, um ein Buch über ihn zu schreiben, und werde seitdem oft von Kollegen anderer Medien gefragt, warum der Kanzler so langweilig/nüchtern/zögerlich/nachdenklich/verschlossen ist. Das wundert mich – denn es war ja nicht so, dass Olaf Scholz früher ein Feierbiest mit Charisma war, das jeden Festsaal mit seinen Reden von den Stühlen gerissen hat, oder habe jetzt ich das falsch in Erinnerung?
Man wusste, was man bekommt, wenn man einen wie ihn wählt, nämlich einen Kanzler, der auf Fragen nicht direkt antwortet, der kaum Gefühle zeigt und durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist, was in Kriegszeiten übrigens keine schlechte Eigenschaft ist. Scholz hat sinngemäß mal gesagt, dass er eigentlich keine Hobbys zum Runterkommen braucht, weil er gar nicht erst hochkommt, das trifft es. Und, ganz ehrlich: Wir können uns nicht immer von Politikern wünschen, dass sie authentisch sein sollen, und dann anfangen zu meckern, wenn einer authentisch dröge ist. Man kann Olaf Scholz viel vorwerfen, aber nicht, jemand anders sein zu wollen als Olaf Scholz.
Seine Art zu reden hat er übrigens wie folgt beschrieben: Jeder Satz, den er sagt, soll von jedem, der ihn hört, so verstanden werden, wie er ihn gemeint hat, auch wenn der, der ihn hört, nicht dabei gewesen ist und den Zusammenhang nicht kennt – da wird selbst eine Formulierung wie „Guten Morgen“ schwierig. Übrigens: Was antwortet Olaf Scholz, wenn ein Journalist ihn fragt, welcher Tag heute ist? Richtig, er antwortet: „Es regnet.“
Das erste Jahr war ein schwieriges für den neuen Hamburger im Bundeskanzleramt, es war ein schwieriges für uns alle. Vor allem war 2022 eine furchtbare Zeitenwende für die Ukraine, die nichts getan hat, außer vor langer Zeit auf ihre eigenen Atomwaffen zu verzichten – in dem guten Glauben, dass Russland sie niemals angreifen, sondern im Zweifel sogar beschützen würde.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer tun mir unendlich leid, und es ist mir manchmal unangenehm, dass wir in Deutschland so viel über die Folgen des Krieges für uns sprechen, über die Inflation, gestiegene Energiepreise, Heizungen, die runtergedreht werden müssen. Das ist alles nicht schön, natürlich nicht, aber es ist nichts gegen das, was die Menschen in der Ukraine durchgemacht haben und weiter durchmachen müssen. Willy Brandt hatte recht, als er folgenden Satz gesagt hat, der zu Beginn des Krieges auf der Titelseite des Hamburger Abendblatts stand: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
Das ist die Ausgangslage, mit der wir in dieses Jahr starten, nachdem das einzig Positive im vergangenen Jahr für viele Menschen ein Corona-Test war. Die Herausforderungen für 2023 sind riesig, für jeden Einzelnen und für die Politik sowieso. Aber wenn es ein Bundesland gibt, dass mindestens finanziell dafür gewappnet ist, dann ist es Hamburg.
Das liegt vor allem an einem Unternehmen, das für die Stadt fast so etwas geworden ist wie Biontech für Mainz. Ich spreche von Hapag-Lloyd. Als ich vor Kurzem in einem Gespräch mit einem Hamburger Kaufmann anmerkte, wie verblüfft ich sei, dass die Reederei einen Gewinn von rund 18 Milliarden Euro erwartet, sagte der nur: „Und ich bin verblüfft, dass selbst der Chefredakteur des Hamburger Abendblatts den Unterschied zwischen Umsatz und Gewinn nicht kennt.“
Später hat er sich bei mir entschuldigt. Das Ergebnis von Hapag-Lloyd wird wirklich in diesen unvorstellbaren Dimensionen liegen, was dazu führt, dass die Freie und Hansestadt Hamburg als Miteigentümerin in 2023 eine gigantische Dividende ausgezahlt bekommt. Geld, das man sehr gut für die anstehenden Herausforderungen gebrauchen kann.
Damit der Senat diesen Herausforderungen gewachsen, hat Peter Tschentscher ihn kurz vor dem Jahreswechsel deutlich verjüngt. Wobei – ein Senator, der schon etwas über 60 ist, ist immer noch dabei, ich könnte mir sogar vorstellen, dass er im Falle eines Falles eine Legislaturperiode dranhängen wird … Oder, Ties?
Jetzt fragen Sie sich, warum ich den Schulsenator einfach von hier oben duze, das mache ich nicht ohne Grund. Ties Rabe war, als ich noch jung war, mein Chef bei einem Wochenblatt, und uns verbindet ein besonderes Erlebnis. Ich schrieb gerade an einem Text über ein Spiel in der Fußball-Bezirksliga, als er in die Redaktion gestürmt kam und laut fragte: „Wer ist Lars Haider?“ Ich meldete mich erschrocken, Ties kam zu mir und sagte: „Wir müssen reden, Sie verdienen zu viel.“
Er hatte schon damals hohe Ansprüche an die Leistungen seiner Leute, etwas, was ihm in seiner Funktion als Schulsenator zugutegekommen ist. Denn Ties Rabe ist das Unmögliche gelungen. Hamburg, das zusammen mit Berlin und Bremen immer Schlusslicht in Deutschland war, wenn es um die Leistungen seiner Schülerinnen und Schüler ging, ist plötzlich bundesweit ein Vorbild in Sachen Bildungspolitik. Ich erinnere mich noch, dass nach meiner Schulzeit Freunde aus Bayern, denen ich erzählte, in Hamburg Abitur gemacht zu haben, spöttisch sagten: „Dann hast du also gar kein Abitur.“ Aus und vorbei – von Hamburg lernen, heißt siegen lernen.
Gut, das gilt jetzt nicht für alle Lebensbereiche, der frühere Finanzsenator Wolfgang Peiner hat sich vor Kurzem im Abendblatt über die Selbstgefälligkeit der Menschen in dieser Stadt beklagt, Zitat: „Wenn der Hamburger um die Alster geht, ist er zufrieden – und wenn er dann noch in Blankenese an der Elbe steht, fehlt ihm nichts mehr zu seinem Glück.“ Es soll sogar junge Menschen geben, die Hamburg so sehr lieben, dass sie sich auf der Elbchaussee festkleben …
Ich kann mich in diesem Zusammenhang nur wiederholen: Wir müssen gar nicht mehr behaupten, dass Hamburg die schönste Stadt der Welt ist, weil sie es seit der Eröffnung der Elbphilharmonie ja tatsächlich ist. Und wir müssen uns auch nicht mehr von den Berlinern ärgern lassen, die behaupten, sie wären cool und sexy, während Hamburg nach wie vor ziemlich spießig sei. Wobei ich gern spießig bin, wenn das bedeutet, alle vier Jahre eine Landtagswahl ordnungsgemäß durchzuführen …
Nein, das wird jetzt kein Berlin-Bashing, es gibt ja auch Dinge, die in der Hauptstadt funktionieren, zum Beispiel … oder … Ah, mir fällt etwas ein: In Berlin gibt es gleich zwei Fußballmannschaften in der der Ersten Liga und in Hamburg, na ja, Sie wissen schon. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass der HSV in diesem Jahr den Wiederaufstieg schafft. Allerdings muss ich gestehen, dass ich auch fest davon überzeugt war, dass die deutsche Nationalmannschaft bei der Fußball-WM in Katar sehr, sehr weit kommt …
Und irgendwie stimmte das ja auch: Wir sind zwar weder Weltmeister auf dem Platz noch Weltmeister der Herzen geworden, dafür sind wir aber die absolute Nummer eins, wenn es darum geht, anderen Menschen und Ländern zu sagen, wie sie zu leben und was sie anders zu machen haben. Ob das Gas, das wir künftig aus Katar erhalten, wohl genauso billig sein wird, wie es das aus Russland war?
Ich persönlich versuche immer, Fehler, die ich gemacht habe, nicht noch einmal zu machen – und deshalb möchte ich kurz vor dem Ende meiner kleinen Rede anders als vor drei Jahren über Corona sprechen. Kurzer Test: Gibt es jemanden im Saal, der schon sechsmal geimpft ist? Fünfmal? Viermal? Vorbildlich!
Bleibt die Frage, warum zwei Bundesländer, die jetzt gar nicht so weit auseinanderliegen, mit Corona so verschieden umgehen. In Hamburg muss man in den Bahnen nach wie vor Masken tragen, in Schleswig-Holstein nicht mehr – was zu lustigen Szenen führt, wenn sich die Passagiere im Regionalexpress Richtung Kiel oder Flensburg kurz vor Pinneberg kollektiv die Dinger vom Gesicht reißen beziehungsweise in der Gegenrichtung aufsetzen. Da soll noch einer sagen, dass wir in Hamburg keinen Sinn für Fasching haben!
Insgesamt sind wir im Norden gut durch die Pandemie gekommen, und weil das so ist, gilt es an dieser Stelle einmal Danke zu sagen. Man sollte als Journalist Politiker eigentlich nicht loben, aber ich tue es einmal stellvertretend, weil mich so viele Kulturschaffende darum gebeten haben. Lieber Carsten Brosda, Ihre Unterstützung der Kultur war ganz großes Kino! Vielen Dank! Sie haben gerade angekündigt, dass sie 2023 fünf- bis sechsmal die Woche abends ins Theater, die Oper oder ins Kino gehen wollen – und sind damit hoffentlich ein Vorbild für viele, damit Hamburg die großartige Kulturstadt bleibt, die es in den vergangenen Jahren geworden ist.
Und wo ich gerade dabei bin: Ich möchte mich auch beim Team von Vivian Hecker für die großartige Organisation dieses Neujahrsempfangs an diesem wunderschönen Ort bedanken, obwohl sie mich jedes Mal zwingt, für meine Rede die letzte Krawatte umzubinden, die ich besitze, und demnächst ein Knigge-Magazin herausbringt, während nicht wenige von Ihnen heute in Jeans und Sneakern gekommen sind … na gut, einer …
Es war sehr schön, Sie alle mal wieder persönlich gesehen zu haben, einige habe ich gar nicht wiedererkannt, und wenn ich dürfte, würde ich Ihnen von hier oben kollektiv das Du anbieten. Aber noch bin ich nicht der Älteste im Saal, das machen wir dann nächstes Jahr!
Habe ich was vergessen? Ach ja, die viel gestellte Frage, wo denn all die Menschen sind, die früher die Arbeit gemacht haben. Soll ich Ihnen etwas sagen? Die sind weg. Wir erleben jetzt den Beginn des demografischen Wandels, über den wir in den vergangenen 30 Jahren so viel diskutiert haben. Und wir sollten deshalb endlich lernen, all den Leuten, die den Laden da draußen und hier drinnen am Laufen halten, den Respekt und die Dankbarkeit entgegenzubringen, die sie verdienen. Den Feuerwehrmännern und -frauen, den Polizistinnen und Polizisten, den Pflegekräften, den Lehrerinnen und Lehrern, den Politikerinnen und Politikern. Wenn wir wollen, dass es in naher Zukunft genügend Menschen gibt, die ihre Arbeit machen und die deswegen hoffentlich extra nach Deutschland kommen, dann sollten wir uns an das Motto halten, das das Hamburger Abendblatt seit seiner Gründung begleitet. Es lautet: „Seid nett zueinander!“
Ich wünsche Ihnen allen ein respektvolles, friedliches und glückliches 2023, in dem Ihr und unser Abendblatt seinen 75. Geburtstag feiern wird, mit etwas, was es in der Geschichte dieser Zeitung noch nie gegeben und das heute begonnen hat – lassen Sie sie überraschen!
Und nun hoffe ich, dass es Ihnen nach diesem Neujahrsempfang nicht so ergeht, wie es einem Kollegen erging, mit dem ich vor drei Jahren eine ähnliche Veranstaltung in Hamburg besuchte. Er sagte damals beim Herausgehen: „Das war wirklich mal ein Empfang, der sein Geld wert war.“ Ich antwortete: „Aber wir haben doch gar nichts bezahlt.“ Und der Kollege erwiderte: „Sage ich doch.“
Happy New Year!