Hamburg. Wolfgang Peiner erfand einst die „Wachsende Stadt“ und warnt, dass München Hamburg überholen könnte. Seine Forderungen.

Wohl kaum ein Politiker hat sich im zurückliegenden Vierteljahrhundert so intensiv mit der Entwicklung seiner Heimatstadt befasst wie Wolfgang Peiner: Im Wahlkampf 2001 präsentierte der geborene Hamburger das Leitbild „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“, das er dann als Finanzsenator umzusetzen half – für dieses Amt hatte er den hoch dotierten Job als Vorstandsvorsitzender der Gothaer Versicherungsbank niedergelegt.

Ende 2006 trat der CDU-Politiker zurück, schmiedete bald darauf das Albert-Ballin-Konsortium, um Hapag-Lloyd für den Standort zu retten. Und als Teil des Trios mit Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) und dem ehemaligen Senator Willfried Maier (Grüne) kämpft er seit Jahren für einen Wissenschaftsaufbruch an Alster und Elbe.

Stadtentwicklung: Hamburg stehen Herausforderungen bevor

„Deutschland und Hamburg stehen vor grundlegenden geopolitischen und technologischen Umbrüchen“, sagt der 79-Jährige und spricht damit die veränderten Warenströme an, eine neue Weltordnung mit dem Aufstieg Chinas, aber auch den Durchbruch von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, die Herausforderungen von Klimawandel und Krieg. „Selten hat sich die Welt so dramatisch verändert wie jetzt.

In diesem Veränderungsprozess steht Hamburg mit anderen Metropolregionen im Wettbewerb. Wir müssen den Kampf um die besten Köpfe in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aufnehmen, die besten Unternehmen und Arbeitnehmer gewinnen, qualifizierte Zuwanderer, aber auch Touristen“, sagt er.

Und zitiert Bürgermeister Paul Nevermann (SPD), der 1961 feststellte: „Der Senat sieht die sich ändernde Welt und wird sich initiativ darauf einstellen. Ihm wird die große Aufgabe zufallen, die vielfältigen Möglichkeiten zu koordinieren.“ Alle großen Bürgermeister, ob Max Brauer, Herbert Weichmann, Nevermann selbst, von Dohnanyi oder Ole von Beust, seien diesem Anspruch gefolgt.

Stadt gewann durch HafenCity neue Beachtung

Unter dem CDU-Bürgermeister von Beust wurde das Leitbild der „Wachsenden Stadt“ zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – die Stadt wuchs im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts von 1,7 Millionen auf 1,774 Millionen Einwohner und gewann durch HafenCity und Elbphilharmonie eine neue Beachtung. „Uns ging es nicht nur um Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, sondern auch um Lebensqualität und Stärkung der Metropolregion“, sagt Peiner.

„Aus dieser Vision leiteten sich konkrete Ziele und Strategien ab. Alle Behörden bekamen eine konkrete Umsetzungsplanung.“ Damals habe sich der Senat an seinen eigenen qualitativen Zielen messen lassen und die Ziele des Leitbildes bis 2010 „weitgehend erreicht.“

Peiner gesteht zwei Schwachpunkte ein: „Das eine ist der Wohnungsbau. Aber wir haben die Konversionsflächen geschaffen, auf denen Wohnungsbau später erst möglich wurde. Das andere ist der Bereich Wissenschaft und Forschung: Hier waren unsere Ziele nicht ehrgeizig genug. Wir blieben trotz wichtiger struktureller Veränderungen bei den Universitäten und der Neuausrichtung des UKE hinter unseren Möglichkeiten zurück.“

„Hamburg besitzt eine hohe Lebensqualität"

Die Wachsende Stadt wirkt immer noch: „Offiziell ist das Leitbild bis heute nicht außer Kraft gesetzt worden.“ Peiner sieht positive Entwicklungen, lobt die Investitionen der vergangenen Jahre wie die Entwicklung der HafenCity oder der Science City; die neuen Exzellenzcluster in der Grundlagenforschung, die verbesserte Schulausbildung, die Investitionen in den Wohnungsbau. „Hamburg besitzt eine hohe Lebensqualität und eine breite, diversifizierte Wirtschaftsstruktur.“

Zugleich aber nimmt er wachsende Probleme wahr. „Ich vermisse einen konkreten Zukunftsplan“, kritisiert der frühere Versicherungsmanager. Wie vor ihm der frühere Innensenator Helmut Schmidt, der in einem anonymen „Brief an Hamburger Freunde“ 1962 Tacheles redete, kritisiert Peiner die Selbstzufriedenheit in Politik und Gesellschaft. „Hamburg schläft immer noch.

Die Hamburger Bürgergesellschaft neigt zu Selbstgefälligkeit. Wenn der Hamburger um die Alster geht, ist er zufrieden – und wenn er dann noch in Blankenese an der Elbe steht, fehlt ihm nichts mehr zu seinem Glück.“ Das behindere die nötige Auseinandersetzung mit der Zukunft.

„Wir müssen uns mit den Wettbewerbern vergleichen"

Und die hält er für unsicherer denn je: Vor acht Jahren hatte Peiner zusammen mit Maier und von Dohnanyi das Papier „In Sorge um Hamburg“ veröffentlicht. Die Sorgen bleiben, obwohl Hamburg Exzellenzcluster gewonnen hat und inzwischen mehrere Max-Planck-In­stitute und Fraunhofer-Gesellschaften beheimatet.

„Das ist gut, aber reicht nicht aus.“ Der Gründungspräsident der privaten Kühne Logistics University konstatiert: „Wir müssen uns mit den Wettbewerbern vergleichen: Die sind schneller. Hamburg droht den Anschluss zu verlieren.“

Zuletzt hatte eine OECD-Studie der Metropolregion Hamburg eine niedrige Arbeitsproduktivität bescheinigt, sie falle zusehends hinter die süddeutschen Me­tropolregionen zurück. 2020 kam die Berliner Hochschulberatungsfirma CHE Consult zum Ergebnis, Hamburgs Wettbewerbsfähigkeit befinde sich trotz mancher Fortschritte im Sinkflug.

Es mangelt an Studierenden

„Alle Metropolregionen, mit denen Hamburg im Wettbewerb steht, haben eins gemeinsam: Wissenschaft und Forschung spielen eine deutlich stärkere Rolle. Deshalb sind sie innovativer und wachstumsstärker, kurzum attraktiver für Zukunftsinvestitionen.“

In der Hansestadt habe die Wissenschaft hingegen noch immer nicht den angemessenen Stellenwert. „Hamburg ist im Vergleich mit Zürich, Kopenhagen, München oder Berlin kein überragender Forschungsstandort.“

So mangele es an außeruniversitären Einrichtungen, zudem habe die Stadt zu wenige Studierende. „Wir haben ein Qualitäts- und ein Quantitätsproblem. Inzwischen überholen uns schon Stuttgart/Karlsruhe oder Frankfurt/Darmstadt. Wir sind gefordert – Hamburg hat eine Bedeutung für den ganzen Norden.“

„Wir müssen uns dem ‚War for Talents‘ stellen"

Die Stadt sei stark in der Grundlagenforschung, aber schwach in der angewandten Forschung. Starke Standorte lägen in beiden Disziplinen vorne. „Der Schlüssel liegt im massiven Ausbau der anwendungsnahen Hochschulen, der Technischen Universität, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften sowie des UKE.

Hier liegt die Basis für Ausgründungen, unternehmerischen Erfolg und die Arbeitsplätze von morgen.“ Anderenorts wie in Zürich oder in München würden Ausgründungen geradezu verlangt. Hier sieht der frühere Finanzsenator einen massiven Aufholbedarf.

Es gehe nicht nur um Forschung, sondern auch um die Lehre. „Wir müssen uns dem ‚War for Talents‘ stellen, dem Kampf um die besten Absolventen. Unternehmen gehen dahin, wo sie Fachkräfte finden. Da sind wir nicht die erste Adresse.“ Der Nachholbedarf betreffe die MINT-Fakultäten (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) wie die Betriebswirtschaftslehre. Schon jetzt bremse der Mangel an IT-Spezialisten das Wachstum der Hamburger Wirtschaft.

„Hamburg ist ein Zentrum der Flugzeugtechnik"

„Lange Zeit haben wir uns nicht getraut, den Universitäten Ziele zu setzen. Das hat sich erst in den vergangenen zehn bis 20 Jahren geändert.“ Der frühere Finanzsenator hält es für angemessen, Ansprüche an die Hochschulen zu formulieren. Damit meint er Ausgründungen, aber auch die Fokussierung für den regionalen Arbeitsmarkt.

„Hamburg ist ein Zentrum der Flugzeugtechnik – da darf die Stadt erwarten, dass die Hochschulen für diesen Bedarf ausbilden.“ Die Universitäten sollten von sich aus prüfen, wie sie den Standort stärken. Und die Wirtschaft sei aufgerufen, ihren Bedarf klarer zu formulieren.

„Hamburg muss sich entscheiden, wovon die Stadt in Zukunft leben will“, fordert der dreifache Vater. „Nur Investitionen in Forschung und Lehre führen zu einer Steigerung der Produktivität, zu Innovationsschüben, zu qualifizierten Arbeitsplätzen und der Ansiedlung neuer Unternehmen. Das sichert den Wohlstand der Stadt.“

„Wir haben kein Erkenntnispro­blem“

Der Aufbruch müsse an der Technischen Universität in Harburg beginnen. „Die Stadt muss sich fragen: Wer soll die Peer Group sein? Berlin, Dresden oder Clausthal-Zellerfeld?“ Der Senat müsse ein Ziel formulieren, mit wem die TU in fünf bis zehn Jahren auf Augenhöhe sein wolle.

„Wir haben kein Erkenntnispro­blem“, betont Peiner. „Aber uns fehlt das Bewusstsein, jetzt handeln zu müssen.“ Die Zeitenwende zwinge die Stadt auf einen neuen Kurs: „Wir sollten uns nicht mehr allein vom Hafen abhängig machen. Er bleibt wichtig, aber wächst schwächer als der Handel insgesamt. Deshalb sind Wissenschaft und Forschung elementar.“

„Brains statt Bricks, Köpfe statt Gebäude“

Das Geld dürfe dabei kein Problem werden. „Wir müssen private Mittel ebenso mobilisieren wie das Vermögen der Stadt – jetzt gilt es, aus altem Vermögen Neues zu schaffen.“ Er rät, besser in Hochschulen zu investieren statt Bürogebäude zu kaufen oder Grundstücke zu horten.

„Das Motto muss lauten: Brains statt Bricks, Köpfe statt Gebäude.“ Zugleich benötige eine Wissenschaftskultur Mäzene. „Ohne Mäzene wie dem Diamantenhändler Alfred Beit wäre die Gründung der Universität 1919 nicht möglich gewesen. Sollte das nicht Motivation für die großen Vermögen der Stadt sein, es ihnen gleichzutun?“ Die Bucerius Law School und die Kühne Logistics University sind zwei Beispiele.

„Wir sollten jetzt größer denken: Es ist an der Zeit, an die Tradition der Hamburger Kaufleute von 1919 anzuknüpfen.“ Bürgermeister Peter Tschentscher traut er diesen Wechsel zu: „Er ist selbst Wissenschaftler und sieht besser als jeder andere die Notwendigkeiten. Er sollte es als Chance begreifen, Wissenschaft und Forschung auf ein neues Niveau zu heben. Aber führen muss der Senat – wie es Nevermann formuliert und von Dohnanyi getan hat.“

„Wir benötigen bis Köln noch immer mehr als vier Stunden"

Eine weitere Baustelle der Stadt sieht Peiner in der unzureichenden Infrastruktur. „Der Datenverkehr ist das ,Gold der Zukunft‘ – Hamburg muss endlich eine Digital- und Glasfaserstrategie verfolgen.“

In seiner Ferienwohnung hatte er einen Glasfaseranschluss, inmitten von Hamburg nur Kupferkabel. Zum anderen müsse der überregionale Personen- und Güterverkehr ausgebaut werden. „Unser Flughafen ist zu klein, die Bahntrassen überlastet.“

Peiner fordert eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Kopenhagen und Köln. „Wir benötigen bis Köln noch immer mehr als vier Stunden – wie vor 100 Jahren.“ Er wünscht sich Hamburg als verkehrspolitische Spinne im Netz, die nicht in der Randlage verharrt. Dafür sei der Bau der A 20 mit der Elbquerung und den Anschluss des Flughafens an das Fernbahnnetz nötig. „Darüber müssen wir nachdenken. Sonst bleibt Fuhlsbüttel ein liebenswerter Provinzflughafen.“

Stadtentwicklung: Hamburg keine Weltmetropole mehr

Eine Weltmetropole, so konstatiert Peiner, sei Hamburg schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. „Das zeigen alle Vergleichsdaten.“ So zählte die Hansestadt 1910 zu den Top 15 auf der Welt, vor Ausbruch des Weltkriegs lag der Hafen der Hansestadt nach London und New York sogar auf Rang drei.

„Hamburg ist heute eine liebenswerte und lebenswerte Metropole. Aber sie hat den Anspruch verloren, in Deutschland die klare Nummer zwei zu sein.“ Diese Rolle von Barcelona in Spanien oder Mailand in Italien verspiele Hamburg. „München wächst immer stärker in diese Rolle hinein. Wollen wir das wirklich?“