Hamburg. Zum Auftakt des Prozesses wegen Mordversuchs wird dem Gericht ein Dokument des Grauens vorgespielt. Opfer ist fürs Leben gezeichnet.

Pola B. (Name geändert) brach schließlich zusammen, nachdem ein maskierter Mann – mutmaßlich ihr Ex-Freund – ihr ein Küchenmesser mit neun Zentimeter langer Klinge in die Schläfe gerammt hatte. Und das so wuchtig, dass der Griff abbrach und die Klinge im Kopf steckenblieb. Bevor sie an einer Bushaltestelle an der Kandiskyallee am 23. Juni dieses Jahres das Bewusstsein verlor, schaffte sie es aber noch, mit dem Handy den Notruf der Polizei zu wählen.

Das Gericht spielt den Mittschnitt, ein Dokument des Grauens, in dem am Dienstag gestarteten Prozess gegen den Angeklagten Jamil S. vor. Zu hören sind die Schreie des verzweifelten Opfers, zu spüren ist blanke Todesangst. „Bitte helfen Sie mir, ich kann nicht mehr“, fleht die 19-Jährige den Beamten am Telefon an. Dazwischen Fetzen: „Jemand hat mich abgestochen“ und „Ich werde gleich ohnmächtig. Ich habe ein Messer im Kopf.“ Dann nichts mehr.

Messer in Kopf gerammt – 19-Jährige ist fürs Leben gezeichnet

Die Retter kamen gerade noch rechtzeitig, mehrere Zeugen hatten der Feuerwehr per Notruf von der stark blutenden Frau an der Bushaltestelle berichtet. Pola B. musste mehrere Stunden notoperiert werden und überlebte. Zurückgeblieben sind viele Wunden, körperliche und seelische. Die linke Gesichtshälfte der jungen Frau ist dauerhaft gelähmt, weil der Täter mit dem Messer einen Gesichtsnerv durchtrennt hatte; sie kann deshalb unter anderem eine Augenbraue nicht mehr heben. Die 19-Jährige ist Nebenklägerin in diesem Verfahren.

Im Mittelpunkt des Prozesses um einen gerade noch verhinderten Femizid steht indes Jamil S., ein 29 Jahre alter Mann mit breiten Schultern, Vollbart und Dutt. Ihm droht eine lebenslange Gefängnisstrafe. Die Staatsanwaltschaft hat den Mann nicht nur wegen des heimtückischen Mordversuchs aus niedrigen Beweggründen angeklagt, sondern auch wegen einer Vergewaltigung und weil er ohne Wissen seiner Freundin, also heimlich, die Kamera laufen ließ, während er Sex mit ihr hatte.

Angeklagter soll Ex-Freundin auch vergewaltigt haben

Und das gleich siebenmal zwischen September 2020 und Juli 2021. Zuvor soll der Spanner im eigenen Haus sein Handy im Raum versteckt und die Kamera auf das Sofa oder das Bett ausgerichtet haben. Einmal, das war am 24. Juli 2021, soll er die junge Frau gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Nachdem sie mit Worten nichts gegen ihren Peiniger ausrichten konnte, biss sie ihm in die Wange. Jamil S. machte laut Anklage trotzdem weiter, während er ihre Hände festhielt und sie nach unten drückte.

Jamil S. und Pola B. waren seit Anfang 2020 ein Paar, nach islamischem Ritus verheiratet und lebten gemeinsam in Tonndorf. Auf Fotos, die die Polizei während der Durchsuchung geschossen hat und die das Gericht am Dienstag als Beweismittel in den Prozess einführt, ist eine auffällig aufgeräumte Wohnung ohne viel Charakter zu sehen.

Angeklagter soll Ex-Freundin nach Trennung Pass entwendet haben

Übergriffe des Angeklagten auf die junge Frau sollen ursächlich für die Trennung gewesen sein, sagte Gerichtssprecher Kai Wantzen dem Abendblatt. Im Juni 2022 habe Pola B. dann wiederholt, dass sie die Beziehung nicht fortsetzen wollte. Jamil S. soll kurz vor der Tat ihren Reisepass an sich genommen haben, um sie an der Ausreise zu hindern.

Am frühen Morgen des 23. Juni, gegen 6.20 Uhr, wartete Pola B. an der Bushaltestelle in Mümmelmannsberg auf eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin. Im dortigen Konsulat wollte sie sich Ersatzpapiere besorgen, wie es weiter hieß. Doch dazu kam es nicht: Der maskierte Mann, mutmaßlich Jamil S., stach mit einem Messer von hinten auf sie ein und hätte sie beinahe umgebracht.

Die Polizei sicherte Spuren am Tatort.
Die Polizei sicherte Spuren am Tatort. © Michael Arning

Im Ermittlungsverfahren hat der 29-Jährige, der bereits aus einer früheren Beziehung ein Kind hat, keine Angaben gemacht. Für den kommenden Verhandlungstag am 6. Januar kündigt seine Verteidigerin am Dienstag eine umfangreiche Einlassung an, sofern dann auch das psychiatrische Sachverständigen-Gutachten vorliegt. „Er hat sehr viel zu erzählen“, sagt die Anwältin. „Auch aus seiner Vergangenheit.“ Die fürs Leben gezeichnete Geschädigte soll am 13. Januar aussagen.