Hamburg. Hamburg meldet steigende Infektionszahlen. Wie Ärzte die Lage einschätzen – und warum sie Lauterbachs Impfkampagne kritisieren.
Was sagen uns diese Zahlen noch? Die Corona-Inzidenz in Hamburg ist in den vergangenen sieben Tagen erneut gestiegen, verharrt mit 352,4 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner jedoch auf einem niedrigen Niveau im Bundesvergleich (687,5). Die Deutschland-Zahlen sind dem Robert-Koch-Institut (RKI) entnommen, die Hamburg-Zahlen dem Senatsbericht. Beide weichen wegen unterschiedlicher Meldungen und Zählweisen voneinander ab. Sind das nun im Herbst und vor dem Ende der Schulferien, das mit Verzögerung aus Erfahrung einen steileren Anstieg bringen dürfte, eigentlich gute Zahlen?
Realistische Beobachter halten sich mit einer Einschätzung zurück. Auch der Senat betrachtet seit Langem den Mix aus diesen Zahlen, einer angenommenen Dunkelziffer, der Situation in den Krankenhäusern, in der „kritischen Infrastruktur“ allgemein und das „Impfgeschehen“. In 14 Tagen stieg die Hamburger Inzidenz von 263 auf 333 auf 352. Die Krankenhäuser meldeten am Montag 413 Patienten mit Sars-CoV-2, davon wurden 19 auf den Intensivstationen behandelt.
Corona Hamburg: Mehr Patienten mit statt wegen Corona in den Kliniken
Die Zahl dieser besonders Betreuten ist vergleichsweise stabil, die generelle Zahl der Klinikpatienten steigt tendenziell. 24 weitere Tote in einer Woche vermeldete die Sozialbehörde von Melanie Leonhard (SPD). Bei den Toten ist wie bei den Krankenhauspatienten grundsätzlich nicht unterschieden zwischen mit und wegen Corona „auf Station“. UKE-Intensivchef Prof. Stefan Kluge berichtete zuletzt auf Twitter von einem österreichischen Register, das zeigte: Die meisten Krankenhaus-Patienten sind dort nicht aufgrund ihrer Covid-Erkrankung, sondern auch darauf positiv getestet worden. Bei den Toten, die Experten oft als „multimorbid“ bezeichnen, also mehrfach bedrohlich erkrankt, kommt oft Corona zu weiteren lebensverkürzenden Faktoren hinzu.
Auch die vom Abendblatt befragte Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Dr. Jana Husemann, vermag keine Einschätzung über die Dunkelziffer bei den Infizierten in Hamburg zu geben. Das vermische sich auch, weil bereits Fälle von Influenza auftauchten, es „gewöhnliche“ jahreszeitlich bedingte Infekte gebe sowie Verdachtsfälle und tatsächlich bestätigte Corona-Ansteckungen. Husemann warf die Frage auf, was „bestätigt“ in diesen Tagen meint. Ein PCR-Test ist der „amtliche“ Beleg. Auch der „Genesenenstatus“ kann nur so belegt werden.
Vierte Impfung: Kommen die "falschen" Patienten?
Einige Ärzte jedoch raten ihren Patienten bereits am Telefon, sich nach einem positiven Schnelltest zu isolieren. Es sei ja recht sicher Corona. Andere bestellen die Verdachtsfälle in die Infektsprechstunde in die Praxis, um einen Abstrich zu nehmen und zur PCR-Analyse ins Labor zu schicken.
Die Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) wiesen gestern darauf hin, dass die Zahl der PCR-Testungen in einer Woche um vier Prozent gestiegen sei, die Positivrate sei vergleichsweise stabil bei 53 Prozent. ALM-Chef Michael Müller sagte: „Wir sollten gerade jetzt stärker an die Eigenverantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger appellieren, das eigene Kontaktmanagement im Blick zu haben, insbesondere in Innenräumen mit vielen Menschen eine Maske zu tragen und die empfohlenen Impfungen in Anspruch zu nehmen.“ Und wer krank sei, solle zum Arzt. Punkt.
Lauterbachs Impfkampagne für Millionen Euro
Hausärztechefin Husemann fürchtet, dass die neue millionenteure Kampagne von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ins Leere zielen könnte. Sie sieht aktuell vermehrt gesunde Menschen deutlich unter 60 Jahren in der Praxis, die eine vierte Impfung wollten. Das könne man nach Beratung machen, sagt Husemann. „Doch gedacht sind diese Impfungen jetzt vorrangig für die über 60-Jährigen und die Risikopatienten.“
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So steht es auch in der Empfehlung der Ständigen Impfkommission. Sie sagte auch, dass man darüber nachdenken solle, analog zur Grippe und ihren Wellen sogenannte Sentinel-Praxen einzurichten. Das sind ausgewählte Praxen, die Grippe und möglicherweise künftig auch Coronainfektionen feststellen und melden. So könne man einen besseren Überblick über die Wellen bekommen.
Long Covid: Kritik an Eckart von Hirschhausen
Was das Thema Long Covid angeht und die noch immer unzureichend strukturierte Behandlung von Patienten (das Abendblatt berichtete), sind Hamburger Ärzte aktuell ernsthaft verschnupft. Nach der Dokumentation über die „Pandemie der Unbehandelten“ am Montag in der ARD von Dr. Eckart von Hirschhausen (2,86 Millionen Zuschauer) schrieb UKE-Arzt Kluge auf Twitter: Mit der Blutwäsche jubele Hirschhausen eine Therapie hoch, „für deren Wirksamkeit es keine ernst zu nehmenden Belege gibt und vor deren Anwendung seriöse Ärzte sogar ausdrücklich warnen“.
Hirschhausen ließ sich selbst mit einer Blutwäsche behandeln und filmen. Am Montag bereits zitierte ihn eine WDR-Mitteilung allerdings so: „Keine dieser Behandlungen ist ein erwiesenes oder empfehlenswertes Verfahren. Was wir dringend brauchen, sind mehr aussagekräftige Studien an universitären Zentren.“