Hamburg. Der Innensenator äußert Zweifel, auch ein Experte nennt Einsatz “überzogen“. Opfer ist anscheinend extra angereister Gewalttäter.
Es ist ein Video, das für große Empörung sorgt: Zu sehen sind zwei Bundespolizisten in Schutzkleidung, die vor dem Millerntor-Stadion einen auf dem Bauch liegenden Fan fixieren; einer der Beamten schlägt dreimal mit der Faust schnell hintereinander seitlich in den Unterkörper des Mannes, versetzt ihm anschließend mit dem Ellenbogen zwei Schläge in den Nacken.
Die über Twitter verbreitete Aufnahme entstand am Freitag vor dem Fußball-Stadtderby zwischen dem FC St. Pauli und dem HSV. Seitdem wird die Kritik an dem Einsatz lauter. Am Montagnachmittag schaltete sich Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) ein. „Ich kann gut verstehen, dass viele von den Bildern in dieser Videosequenz schockiert sind“, sagte er.
Polizeigewalt beim Derby in Hamburg? Fall wird untersucht
„Grundsätzlich sind solche Situationen, in denen rivalisierende, gewaltsuchende Fußballanhänger aufeinandertreffen, sehr herausfordernde Einsätze, bei denen ein entschlossenes polizeiliches Einschreiten häufig erforderlich ist, um Schlimmeres zu verhindern“, erklärte Grote. „Allerdings muss jede polizeiliche Gewaltanwendung im Einzelfall immer erforderlich und verhältnismäßig sein. Das erscheint in diesem Fall zumindest zweifelhaft.“
Nun untersuche das bei der Innenbehörde angegliederte Dezernat Interne Ermittlungen den Fall. „Im Raum steht der Vorwurf der Körperverletzung im Amt“, sagte Grote. Die Bundespolizei, die eng mit der Hamburger Ermittlungsbehörde zusammenarbeite, habe den betreffenden Beamten bereits identifiziert. Auch der am Boden liegende Mann sei identifiziert worden; dieser sei „polizeilich nicht ganz unbekannt“, sagte Grote. „Aber ob das in dem Moment eine Rolle gespielt hat, wissen wir nicht.“
St.-Pauli-Fan als „Gewalttäter Links“ eingestuft
Nach Abendblatt-Informationen handelt es sich bei dem Mann, den eine Festnahmeeinheit der Bundespolizei fixierte, um einen 37 Jahre alten Italiener, der als „Gewalttäter Links“ eingestuft wird. Er wird der Gruppe „Rotsport“ zugerechnet, deren Mitglieder sich durch Tragen eines roten Schals kenntlich machen. In den vergangenen Jahren fiel der Mann in Deutschland immer wieder im Zusammenhang mit Gewalttaten auf, unter anderem bei den Krawallen 2015 in Frankfurt anlässlich der Einweihung der Europäischen Zentralbank.
Zum Spiel des FC St. Pauli gegen den HSV war er offenbar extra angereist. Nach seiner Ingewahrsamnahme wurden bei ihm Flugtickets gefunden. Gefunden wurden bei dem Mann auch Drogen. Vermutlich handelt es sich um Kokain und Ecstasy. Ob er zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme unter dem Einfluss von Betäubungsmittel stand, wurde nicht geklärt.
Experte: Vorgehen ein „überzogenes Gewalthandeln"
Da er lediglich im Rahmen der Gefahrenabwehr festgesetzt und ihm keine Straftat angelastet wurde, wurde auch keine Blutprobe veranlasst. „Die Betrachtung des Videos wirft Fragen zur Recht- und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme auf“, sagte Polizeivizepräsident Mirko Streiber. Mittlerweile seien auch Online-Anzeigen eingegangen.
Nach Einschätzung des Hamburger Polizeiwissenschaftlers Rafael Behr war das Vorgehen des Bundespolizisten ein „überzogenes Gewalthandeln, das geahndet werden sollte“. Grundsätzlich dürfe die Polizei nur körperliche Gewalt anwenden, wenn dadurch noch mehr Gewalt verhindert werde, sagte Behr.
„Hier wurde dreimal auf den Körper geschlagen"
Ein solcher Fall war zwar vor dem Stadtderby wohl gegeben: Nach Angaben der Polizei liefen etwa 150 maskierte St.-Pauli-Anhänger auf einen Marsch von 3500 HSV-Fans zu; die Polizei sei „dazwischengegangen“ und habe „damit verhindert, dass die HSV-Fans massiv angegriffen wurden“, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün. Um Gewalt in solchen Fällen einzuhegen, gelte allerdings der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, erläuterte Rafael Behr.
„Der Polizist darf nur so viel körperliche Gewalt anwenden wie nötig. Diesen Grundsatz müssen die Beamten auch in hektischen Situationen immer berücksichtigen“, sagte Behr, der als Professor an der Hochschule in der Akademie der Polizei lehrt. „Hier wurde dreimal auf den Körper geschlagen. Es waren Schläge, die nicht nur wehtun, sondern auch gefährlich sein können, insbesondere die Ellenbogenschläge auf den Kopf. Das sieht nach einer Ermessensüberschreitung aus, die ich für sanktionswürdig halte.“
"Einfaches Fixieren hätte womöglich ausgereicht"
Die Dynamik der Lage lasse sich allein anhand des Videos nur schwer beurteilen, so der Wissenschaftler. Aber: „Von Polizisten eingesetzte sogenannte Schockschläge, auch Blendschläge genannt, sind nicht zur Bestrafung gedacht, sondern sollen etwas bewirken. Der Beamte wartet aber gar nicht ab, ob sein erster Schlag etwas bewirkt, sondern schlägt gleich noch einmal zu und dann noch einmal“, sagte Behr.
„Obwohl die Situation sicher nicht einfach und übersichtlich war, hätte ein einfaches Fixieren des Mannes womöglich ausgereicht, bis personelle Unterstützung da ist“, so Behr. Stattdessen habe der Beamte darauf hingewirkt, dass der am Boden Liegende seine Hände freigebe, „was unter normalen menschlichen Gesichtspunkten total unwahrscheinlich ist, weil jeder, der Gewalt erfährt, nicht freiwillig seine Hände von sich streckt, sondern versucht, sich in irgendeiner Form zu schützen“.
Polizeigewalt beim Derby in Hamburg? Linke kritisiert Grote
Die Linken-Fraktion kritisierte Grote. „Es ist ein Armutszeugnis für den Innensenator, dass er als politisch verantwortlicher Senator trotz der schockierenden Bilder, der Verletzten und der bundesweiten Empörung über den Polizeieinsatz drei Tage brauchte, um eine Meinung zu entwickeln“, sagte Deniz Celik. „Es wäre seine Aufgabe gewesen, schnellstmöglich das Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen und unmissverständlich deutlich zu machen, dass Straftaten in Uniform nicht geduldet werden dürfen.“
- Grote: Russland größte Bedrohung für den Frieden
- Polizeigewalt beim Derby? Fanhilfe erhebt schwere Vorwürfe
- Griff „General“ Fröhlich in Grote-Verfahren ein?
Der SPD-Abgeordnete Sören Schumacher sagte, die Polizei habe die „außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe“ gehabt, eine „besonders schwierige Lage vor Ort“ zu kontrollieren. „Inwiefern das Verhalten der Polizei dabei verhältnismäßig war, gilt es nun zu prüfen.“ Die Grünen-Abgeordnete Sina Imhof erklärte, in den per Video festgehaltenen Fällen dränge sich die Frage der Verhältnis- und damit Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung auf. „Die Ermittlungen des Dezernats Interne Ermittlungen sind daher richtig und wichtig, um Klarheit zu schaffen.“