Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die Pflichten von Politikern.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob sich Politiker an alles erinnern müssen.
Lars Haider: Ich war vor ein paar Wochen bei der Befragung von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft zur Cum-Ex-Affäre und habe dort unzählige Male den Satz gehört: „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Deshalb wollen wir heute darüber sprechen, ob und an was sich Politikerinnen und Politiker eigentlich erinnern können müssten, oder ob es verständlich, vielleicht sogar legitim ist, dass sie sich an lang zurückliegende Sachverhalte oder Gespräche eben nicht erinnern.
Dieter Lenzen: Das ist eine Frage, die sich oft in der Geschichte der Bundesrepublik, aber auch in der anderer Nationen gestellt hat. Weil nämlich von Politikern nicht selten zum letzten Mittel der Nichterinnerung gegriffen wird, um zu vermeiden, etwas Falsches zu sagen. Das kann die mildeste Form der Ausrede sein, wenn es sich denn um Ausreden handelt. Am Beispiel von Olaf Scholz muss man darüber reden, ob ein Bürgermeister oder ein anderer Staatsmann wichtige Gespräche in seinem Büro führen kann, ohne sie protokollieren zu lassen. Das ist eigentlich nach den Verwaltungsvorschriften nicht erlaubt, zumindest sollte man eine Aktennotiz anlegen, mit wem man über was gesprochen hat: Thema war dies, Problem war das, wir haben uns auf folgende Lösung verständigt – so etwas kann man ganz schnell machen und hätte so eine Rechtssicherheit für spätere Zeiten.
Aber man weiß nicht unbedingt vor einem Gespräch, ob es wichtig wird oder nicht.“
Lenzen: Aber es gibt Umstände, die darauf hinweisen, dass das Gespräch wichtig werden könnte, im Fall der Gespräche zwischen Olaf Scholz und den Chefs der Warburg-Bank etwa die Diskussionen um die Cum-Ex-Geschäfte. Grundsätzlich sollten offizielle Termine eines Bürgermeisters, die ja auch vorbereitet werden, ein Protokoll nach sich ziehen, das im Idealfall von dem gefertigt wird, der auch für die Vorbereitung verantwortlich war. Und grundsätzlich muss man sich fragen, ob jemand, der sich so schlecht erinnern kann, nicht gut beraten wäre, Dokumentationen über all das anfertigen zu lassen, was er gemacht hat.
Nun ist es bei Olaf Scholz wahrscheinlich so, dass er sich schon daran erinnert, die Gespräche mit den Vertretern der Warburg-Bank geführt zu haben, das aber aus rein taktischen Gründen nicht zugeben kann. Entweder hat man an die Gespräche eine Erinnerung oder man hat sie nicht, mit einem Mittelding – daran kann ich mich erinnern, aber daran nicht – wird ein Politiker vor einem Untersuchungsausschuss kaum durchkommen.
Lenzen: Ich würde mir jetzt nicht anmaßen, eine Ahnung zu haben, wie es in diesem Fall wirklich war. Aber es kommen Fragen und Zweifel auf, und man kann Olaf Scholz nur raten, die zu beseitigen, weil sie ein negatives Kapital sind, das bleibt.
Heißt für amtierende und künftige Bürgermeister: alles aufschreiben, alles protokollieren, was sie tun, auch wenn es noch so nebensächlich wirkt. Man kann nie wissen, ob und in welchem Zusammenhang ein Termin oder ein Gespräch noch einmal wichtig werden könnten.
Lenzen: Wenn ein Politiker ein Staatsbeamter ist, dann gelten für ihn dieselben Vorschriften wie für jeden anderen kleinen Beamten auch. Er kann morgen aus dem Amt ausscheiden, und dann muss sein Nachfolger wissen, was er getan und entschieden hat, was besprochen und was versprochen worden ist. Natürlich ist damit ein Haufen Arbeit verbunden, wenn man am Tag 15 Termine hat, die so festzuhalten, dass andere oder man selbst später daraus schlau wird. Der Ausweg ist, dass man nicht allein in diese Termine geht, sondern einen Referenten mitnimmt, der sich Notizen macht.
Aber dann bekommen diese Termine einen anderen Charakter. Es war und ist angenehm, dass man in Hamburg relativ leicht einen Termin beim Bürgermeister erhält und mit dem auch mal unter vier Augen sprechen kann.
Lenzen: Entscheidend ist, dass die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf Transparenz bei politischen Entscheidungen haben, und dazu gehört, dass es keine geheimen Gespräche in irgendwelchen Amtsstuben gibt. Ein Treffen mit einem Bürgermeister ist per se immer etwas Offizielles, der Chef einer Landesregierung führt ja nicht irgendwelche informellen Gespräche.
Warum ist das in Hamburg und auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahrzehnten nicht so gemacht worden, warum wurden Gespräche von Regierungschefs nicht protokolliert? Olaf Scholz ist bei Weitem nicht der einzige hochrangige Politiker, der sich bei entsprechenden Befragungen „nicht mehr erinnern“ kann.
Lenzen: Ich möchte das Thema deshalb von der Person Olaf Scholz abrücken, auch weil er sehr viele Verdienste um Hamburg hat. Es hat vielleicht zum Teil mit einer gewissen Arroganz der Macht zu tun, zu einem anderen Teil mit falschen Einschätzungen von Gesprächssituationen. Nehmen wir doch noch mal den Fall Scholz: Wenn dokumentiert worden wäre, dass die Warburg-Bank mit bestimmten Forderungen an ihn herangetreten ist und er diese abgelehnt hat, wäre er heute fein raus und allen Beteiligten wäre sehr viel Arbeit erspart worden.
Da sind wir an einem wichtigen Punkt: Sollten die Herren der Warburg-Bank Scholz im Rahmen der Cum-Ex-Affäre um eine wie auch immer geartete Hilfe gebeten haben, dann muss er sich doch erinnern, weil es eben keine Nebensächlichkeit gewesen wäre. Sondern etwas, das man als Hamburger Bürgermeister durchaus anmaßend finden kann. Das merkt man sich doch, das ist nicht irgendetwas gewesen, da ging es um was.
Lenzen: Es gibt eine Erinnerungshilfe, die mir immer sehr genutzt hat, und das sind meine Kalender. Die habe ich alle bis heute aufbewahrt, und wenn ich da reinschaue und lese, mit wem ich mich zu welchem Gespräch getroffen habe, weiß ich ziemlich genau, worum es ging.
Haben Sie dann auch noch konkrete Erinnerungen daran?“
Lenzen: Ich würde mich zumindest erinnern an eine Anmaßung oder an eine tolle Idee, wer sie jeweils hatte und ob ich darauf eingegangen bin oder nicht. An das informelle Begleitgeschehen würde ich mich natürlich nicht erinnern, aber das ist auch nicht so schlimm.
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Olaf Scholz hat allein bei seinem letzten Auftritt als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss bestimmt 20-mal gesagt, dass es keine politische Einflussnahme in der Cum-Ex-Affäre gegeben hat. Sollte sich herausstellen, dass das anders war, hätte der Bundeskanzler 20-mal gelogen. Das ist kaum vorstellbar.
Lenzen: Deswegen wollen wir alle hoffen, dass es auch genauso war. Denn alles andere würde eine gewaltige Staatskrise bedeuten, die Deutschland derzeit nicht gebrauchen kann. Wenn Olaf Scholz wider besseres Wissen behaupten würde, dass es keine politische Einflussnahme gegeben hat, hätten wir es mit einer absolut ungeeigneten Politikerpersönlichkeit zu tun. Das wäre Harakiri.