Hamburg. Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider spricht mit dem ehemaligen Uni-Präsidenten Dieter Lenzen über die Anforderungen des Schulsystems.
In ihrer gemeinsamen Podcast-Reihe „Wie jetzt?“ sprechen Lars Haider und der ehemalige Uni-Präsident Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob in Hamburg inzwischen zu viel (Leistung) von den Schülerinnen und Schülern verlangt wird.
Lars Haider: „Heute wollen wir über ein Thema sprechen, das in Hamburg viele Eltern schulpflichtiger Kinder betrifft. Es geht um die Frage, ob die Stadt und ihr Schulsenator zu viel von den Schülerinnen und Schülern verlangen, ob es zu sehr um Leistung und zu wenig um die sozialen Aspekte des Lernens geht. Das ist insofern interessant, weil ich mich noch an Zeiten erinnern kann, in denen vor allem darum gestritten wurde, dass Hamburg im Vergleichstest mit anderen Bundesländern zusammen mit Bremen und Berlin immer zu den schwächsten gehörte, wenn es um die schulischen Leistungen ging, und man daran unbedingt etwas ändern wollte.“
Dieter Lenzen: „In der Mitte der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann man, im Vergleich zu schauen, was denn eigentlich hinter den Abiturnoten steckt. Auslöser waren Eltern in Bayern, die es seltsam fanden, dass von ihren Kindern im Abitur für eine gute Note so viel mehr verlangt wurde als beispielsweise in Hamburg. Das hat zu einer Verfassungsklage geführt, die damit geendet ist, dass das deutsche Bildungssystem verpflichtet sei, die Noten in verschiedenen Bundesländern vergleichbar zu machen. Eine Zwei muss eine Zwei sein, ob nun in Bayern oder in Hamburg. Bis zur Wende blieb das Problem ungelöst, dann verschärfte es sich durch die Wiedervereinigung, weil man feststellte, dass die Kinder aus den neuen Bundesländern bessere Kenntnisse in verschiedenen Bereichen hatten als die Kinder aus den alten Ländern.
Deshalb begannen in den 90er-Jahren die Vergleichsstudien, die bekannteste war und ist Pisa, es gibt aber auch andere. Das Ergebnis war für Deutschland erschütternd, wir landeten unter ferner liefen, vor allem in den Naturwissenschaften und in der Lesekompetenz. Daran musste sich etwas ändern, und deshalb hat die Kultusministerkonferenz später beschlossen, dass es Leistungsstandards geben muss, die überall gelten. Auch Hamburg hat die Pflicht, diese Standards umzusetzen. Und das wird jetzt kritisiert.“
„Kritisiert wird konkret, dass man von den Schülerinnen und Schülern zu viel erwartet. Dabei gelten zum Beispiel Bundesländer wie Sachsen oder Bayern immer noch als deutlich anspruchsvoller und leistungsbetonter. Woher kommt das Wiederaufflammen der Leistungsdiskussion in Hamburg? Hat sie auch etwas damit zu tun, dass Hamburg traditionell ein SPD-geführtes Land ist und dieser SPD die soziale Chancengleichheit immer extrem wichtig war und ist?“
Lenzen: „Es gab so etwas wie ein Nord-Süd-Gefälle in Bezug auf Leistung und Anstrengung, das war auch in anderen Feldern jenseits der Schule so. Vielleicht liegt das an solchen Parteien und ihren Programmen, die bei einer leistungsorientierten Schule gleich den Verdacht erheben, dass Schüler aus bildungsferneren Familien benachteiligt werden, was auch tatsächlich so ist. Aber es gibt zwei Methoden, mit dieser Benachteiligung umzugehen: Man beseitigt sie durch zusätzliche Fördermaßnahmen oder man senkt die Leistungsanforderungen allgemein. Ich halte den zweiten Weg für falsch, weil die Quittung sowieso kommt, spätestens beim Übergang der Schülerinnen und Schüler in die Berufswelt.“
„Und niemand kann ein Interesse daran haben, dass Hamburger Schülerinnen auf dem Arbeitsmarkt schlechtere Chancen haben als solche aus Mecklenburg-Vorpommern oder Schleswig-Holstein.“
Lenzen: „Schulsenator Ties Rabe, der mir angesichts dieser Debatte wirklich leidtut, ist sogar verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Schülerinnen und Schüler aus Hamburg beim Start ins Berufsleben keine Nachteile haben. Interessanterweise wird Rabe kaum von Schülern kritisiert, sondern vor allem von Eltern sowie von Lehrerinnen und Lehrern. Ich versuche mal, mich unbeliebt zu machen: Die Ergebnisse der Pisa-Studien sind eigentlich dazu geeignet, genau zu sagen, wie gut die Absolventen einer einzelnen Schule sind. Die entsprechenden Ergebnisse werden, auf die einzelnen Schulen bezogen, bedauerlicherweise nicht veröffentlicht, weil Lehrerinnen und Lehrer dagegen protestiert haben. Das ist schade, weil Schulen sich viel besser entwickeln könnten, wenn sie wüssten, wie sie im Vergleich mit anderen Schulen in ihrem Stadtteil dastehen. Lehrerinnen und Lehrer befürchten vielleicht, dass schlechte Ergebnisse ihrer Schülerinnen und Schülern einen unzulässigen Rückschluss auf ihren Unterricht zulassen könnten.“
„Aber das ist doch die entscheidende Frage: Woran liegt es, wenn eine Klasse schlechtere Noten hat als eine andere Klasse? An den Schülerinnen und Schülern oder an den Lehrerinnen und Lehrern? Das muss man doch völlig wertfrei wissen, um entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.“
Lenzen: „Häufig ist es eine Mischung aus mehreren Gründen, aber die muss man halt herausfinden. Es ist überhaupt nicht ehrenrührig, Schulen auf den Prüfstand zu stellen, im Gegenteil. In den Niederlanden werden den Schulen ihre Budgets oftmals auf der Basis der Leistungen zugewiesen, die die Kinder bei den Abschlussarbeiten bringen. Das führt zu einer massiven Veränderung des Leistungsverhalten, weil jede Schule motiviert sein muss, die Abschlüsse zu verbessern – denn sonst steht im schlimmsten Fall ihr Fortbestand auf dem Spiel.“
„Was könnten die Motive der Eltern sein, die sich jetzt gegen die gestiegenen Leistungsansprüche zur Wehr setzen?“
Lenzen: „Vielleicht steckt dahinter so etwas wie eine Angst vor der Wahrheit über die Chancen und Begabungen des eigenen Kindes. Das ist ebenfalls nicht ehrenrührig, sondern völlig verständlich. Eltern wollen, dass ihre Kinder einen guten Lebensweg gehen, und dabei helfen hervorragende Noten. Aber perspektivisch tun sie ihren Söhnen und Töchtern keinen Gefallen, weil die Abrechnung wie gesagt im Berufsleben kommt. Und grundsätzlich leben wir alle nach dem ökonomischen Prinzip, mit möglichst wenig Aufwand möglichst große Effekte zu erzielen.“
„Sie haben gesagt, dass Ihnen der Schulsenator leidtut. Er ist ein totaler Verfechter dieses Leistungsprinzips, das er trotz aller Kritik seit elf Jahren durchzieht.“
Lenzen: „Im Grunde macht er nichts anderes, als die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz umzusetzen. Er verhält sich gesetzeskonform.“
„Interessant ist die Leistungsbezogenheit von Senator Rabe auch deshalb, weil SPD-Bildungspolitiker immer noch davon träumen, dass alle Kinder die gleichen Chancen auf gute Noten haben, unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Eltern.“
Lenzen: „Politik hat nicht die Pflicht, Gleichheit herzustellen, das ist in der Verfassung nirgendwo niedergeschrieben worden. Politik muss Chancengleichheit herstellen, das ist etwas völlig anderes, aber ohne Anstrengung geht das nicht. Zu mogeln kann nicht die Lösung sein.“
„Haben wir im Norden verlernt, uns anzustrengen? Das würde mich wundern, denn wir sind doch alle in einer bürgerlich-protestantischen Gesellschaft aufgewachsen, die von Arbeit und Disziplin geprägt war, zum Teil es immer noch ist.“
Lenzen: „Wir haben es bei uns ja nicht mit dem Calvinismus zu tun, in dem die Anstrengung und der Erfolg derselben als Nachweis göttlicher Gnade gewertet wird. Das ist in der bei uns vorherrschenden lutherischen Variante nicht der Fall, hier darf der eigene Erfolg nicht zu Lasten anderer gehen. In dem Augenblick, in dem ich Menschen hervorhebe, die eine besondere Leistung vollbringen, passiert aber genau das.“
„Das nicht zu tun, führt zu einer Gleichmacherei, an der keiner ein Interesse haben kann.“
Lenzen: „Man kann nicht ernsthaft den Standpunkt vertreten, dass es besser wäre, wenn Kinder weniger könnten oder weniger wüssten, das ist eine absurde Idee. Kinder wollen nämlich möglichst viel können und wissen. Davon abgesehen ist es für alle gut, wenn die nachfolgende Generation tüchtig ist. Auch kann man nicht ,soziales Lernen‘ gegen inhaltliches Lernen in Stellung bringen, denn das ist kein Gegensatz.“
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„Könnte man die ganze Diskussion nicht dadurch entschärfen, dass man in Hamburg wie in Schleswig-Holstein wieder grundsätzlich von G8 auf G9 zurückkehrt? Dann hätten die Kinder ein Jahr mehr Zeit, das Abitur zu machen, und viele Probleme, über die wir heute gesprochen haben, würden sich zumindest entschärfen.“
Lenzen: „Die Standards sind eingestellt worden auf die kurze Form, das muss machbar sein. Die Einführung der verkürzten Lernzeit hatte übrigens einen Grund: Es bestand der Eindruck, dass es viel zu viel Leerläufe gibt, insbesondere im elften Schuljahr. Außerdem hatte die Abschaffung eines Schuljahrs auch ökonomische Gründe, man konnte damit viel Geld sparen. Jetzt, angesichts des bereits bestehenden und sich weiter verschärfenden Lehrermangels, können wir froh sein, dass wir G8 eingeführt haben.“