Hamburg. Ex-Uni-Präsident Dieter Lenzen spricht über Bildung im 21. Jahrhundert und das Für und Wider von Studium und Berufsausbildung.

In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen. Heute geht es um die Frage, ob nicht viel zu viele junge Leute studieren.

Lars Haider: „Studieren nicht viel zu viele junge Männer und Frauen in unserem Land, und sollten von denen nicht viel mehr Tischler oder Klempner oder Elektriker werden, also für die Berufe ausgebildet werden, in denen wir jetzt schon einen Mangel an Fachkräften spüren? Sie, lieber Herr Lenzen, werden sagen, dass wir in den kommenden Jahren auch viele Lehrkräfte und Ärztinnen und Ärzten brauchen werden. Aber ist unsere grundsätzliche Herausforderung nicht, dass wir in der Vergangenheit teilweise am Bedarf vorbei ausgebildet haben?“

Dieter Lenzen: „Ich habe in Vorbereitung auf unser Gespräch mit dem Vorsitzenden eines Unternehmensverbandes gesprochen, der mir sehr klar gesagt hat, dass wir den einen, also den Studierenden, nicht gegen den anderen, also den Auszubildenden, ausspielen dürfen. Denn wir brauchen beides. Die Frage müsste also eigentlich heißen: Haben wir die richtigen Handwerker, haben wir die richtigen Studierenden? Meine These ist: Wenn es schwierig ist zu klären, ob wir künftig eher Akademiker oder, um das Beispiel einmal zu nehmen, Handwerker brauchen, sollte künftig jeder beides machen. Das heißt, der Studierende kann nur dann studieren, wenn er auch eine Berufsausbildung gemacht hat. Und wer einen Beruf erlernt, kann oder sollte danach noch studieren. Es hat in den 70er-Jahren in Nordrhein-Westfalen einen Modellversuch gegeben, dieses bereits in der Sekundarstufe II zu tun. Die jungen Leute haben damals eine duale Ausbildung gemacht, an deren Ende sowohl das Abitur als auch ein Gesellenbrief standen. Das war sehr erfolgreich. Was ich vorschlage, ist das Gleiche, nur eine Stufe weiter. Früher ist in diesem Zusammenhang immer von einer Verberuflichung des Studiums gewarnt worden, aber heute zieht dieses Argument nicht mehr. Denn das heutige Studium hat keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Studium in den 60er- oder 70er-Jahren. Wer heute einen Bachelor hat, hat keine höhere Bildung, sondern schlicht einen berufsnahen Studienabschluss.“

„Es kommt hinzu, dass auch die Ausbildungen zum Beispiel in den Handwerksberufen heute nicht mehr mit jenen in den 60er- und 70er-Jahren zu vergleichen sind.“

„Die Zeiten, in denen ein akademischer Titel eine höhere Bedeutung hatte als etwa ein Meister-Titel, sind aus meiner Sicht vorbei. Wenn Sie sich das Curriculum der Ausbildung zum Mechatroniker angucken, werden Sie feststellen, dass mancher Ingenieurstudent damit überfordert ist.“

„Das ist interessant, dass Sie das sagen. Aber wenn wir das alles so machen würden, wie Sie es beschreiben, würde die Verschulung der Hochschulen doch noch stärker zunehmen, sie würden am Ende zu reinen Berufsvorbereitungsanstalten werden. Und das kann doch nicht in Ihrem Interesse sein.“

„Natürlich muss ein Studium auch weiterhin einen allgemeinbildenden Anteil haben, das dürfte auch kein Problem sein. Aber es ist wenig damit gewonnen, wenn viele Studierende einen Abschluss in Fächern erwerben, der sie nicht in die Nähe eines Berufes führt, der dringend bei uns gebraucht wird.“

„Mir wurde damals nach der Schule noch geraten, das zu studieren, wozu ich Lust habe. Ist das aus Ihrer Sicht jetzt kein Prinzip mehr, das wir uns leisten können?“

„Das ist ein Scheingegensatz. Etwas zu studieren, was einem Spaß macht, schließt nicht aus, dass es zu einem Beruf führt, der im besten Fall doch auch Spaß machen soll. Es kommt darauf an, dass man den jungen Leuten eine kluge Kombination aus allgemeiner und berufsspezifischer Bildung bietet, die ihnen ermöglicht, sich sowohl in die eine als auch in die andere Richtung zu orientieren.“

„Und wo ein Meister-Titel genauso viel wert ist wie ein Studienabschluss.“

„Ich habe immer vorgeschlagen, dass man den Master an der Universität mit dem des Meisters gleichsetzt. Der Bachelor würde dem Gesellenbrief entsprechen, beides liegt auf einer ähnlichen Ebene. Dagegen haben sich natürlich die Vertreter der reinen akademischen Berufe gewehrt, die fanden, es könne nicht sein, dass ein Meister dasselbe sei wie ein Master. Ich frage: Wieso eigentlich nicht? Hinter dieser Diskussion steckt der Wunsch nach einer gesellschaftlichen Differenzierung. Hier sind die feinen Leuten, dort die weniger feinen, hier sind die mit den schmutzigen Fingernägeln, dort die mit den sauberen Händen, hier die Klempner, dort die Schwätzer.“

„Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Als ich jung war, hieß es in meiner Familie immer: Du sollst einmal Abitur machen und studieren, wenn du studiert hast, hast du es geschafft. Und bis heute sagen mir Bekannte: Wie kann es sein, dass ich weniger verdiene als ein Tischler, ich habe doch schließlich studiert? Davon müssen wir wegkommen.“

„Das ist ein Produkt der Entstehung der akademischen Berufe im 19. Jahrhundert. Um es verkürzt zu sagen, ist das Bildungsbürgertum damals an die Stelle des Adels getreten. An die Stelle des höheren Standes, der aus verschiedenen Gründen verschwand, trat der Gebildete, der ein schweres Studium hinter sich gebracht hatte. Das adelte ihn, und das ist seit 150 Jahren aus den Köpfen nicht herauszukriegen.“

Wie kriegen wir das raus aus den Köpfen, gerade aus den Köpfen der Eltern? Bei jungen Leuten habe ich zuletzt ein verstärktes Interesse etwa an einem Beruf wie dem des Tischlers registriert, vielleicht ändert sich da schon etwas.“

„Aber das ist deutsches Bildungsbürgertum. Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ ist eine Feier des Tischlerberufs, und daher kommt dieses Hervorheben der Tischlertätigkeit.“

„Stimmt, Tischler ist angesehen, Klempner oder Elektriker nicht so, dabei sind die Anforderungen dort vielleicht noch höher. Wie kriegen wir das gedreht?“

„Indem die Differenz zwischen sauber und schmutzig, zwischen Faust und Hirn sich auflöst. Die Annahme ist eben falsch, dass ein Gas-Wasser-Installateur weniger kann als ein Akademiker, oft ist das Gegenteil richtig. Diese Missachtung des Verwendbaren im Alltag muss aufhören, das ist eine Aufgabe des Bildungssystems.“

„Wenn wir auf die zugespitzte Ausgangsfrage zurückkommen, was wir mit den ganzen Studierenden sollen, ist die einfache Antwort: Wir bringen sie zur Arbeit.“

„Wir bringen sie auch zur Arbeit. Das heißt: Studieren zu wollen bedeutet ebenso, eine berufliche Ausbildung haben zu sollen.“

„Warum konnten Sie sich mit all dem, über das wir gerade sprechen, nicht in ihrer Zeit als Präsident der Universität Hamburg durchsetzen?“

„Der Widerstand dagegen ist erheblich, und er ist teilweise nachvollziehbar, wenn Hochschullehrer oder -lehrerinnen vortragen, dass sie auch dazu da sind zu forschen. Aber inzwischen gibt es ja duale Hochschulen, und die können sich in der Regel vor Studierenden nicht retten – das Modell funktioniert also.“