Hamburg. Die Hamburger Autorin Anne Otto spricht über den Weg der Kinder zur Selbstständigkeit, Schuldgefühle und Verpflichtungen.
Kaum eine Beziehung prägt uns so stark wie die zu unseren Eltern, nicht nur als Kind, sondern ein Leben lang. Und weil die Menschen immer älter werden, verbringen wir mittlerweile oftmals 50 oder 60 Jahre zusammen – mehr als je zuvor. Nicht nur wir werden erwachsen – die Beziehung zu unseren Eltern sollte es auch werden, meint die Hamburger Autorin und Diplom-Psychologin Anne Otto.
Es ist schon so: „Solange die Eltern leben, bleiben die Kinder Kinder – zumindest im Zusammenhang mit ihren Eltern“, sagt Otto. Ihre Beziehung entwickele sich in drei Stufen: „Die erste ist die Ablösung vom Elternhaus, wenn Kinder ausziehen. Eine zweite Stufe erklimmen wir, wenn die eigenen Kinder kommen, dann wird man noch mal unabhängiger, fühlt aber auch wieder mehr Verbundenheit mit den Eltern. Die dritte Stufe ist erreicht, wenn die alten Eltern pflegebedürftig werden.“
Familie: Erwachsenwerden verschiebt sich nach hinten
Der demografische Wandel sorgt dafür, dass sich die Phasen immer mehr verschieben, wie Otto in ihrem Buch „Für immer Kind? Wie unsere Beziehung zu den Eltern erwachsen wird“ (Edition Körber, 22 Euro) beschreibt. „Wir werden alle immer älter, das führt dazu, dass sich die Phasen verzögern. Menschen sind erst mit 70 oder 80 Jahren so richtig alt – und selbst die 70- und 80-Jährigen würden jetzt protestieren. So verschiebt sich das Erwachsenwerden bis in die 30er, teils bis in die 40er. Das ist zum einen begrüßenswert, zum anderen brauchen wir aber neue Formen, um uns doch ein wenig zu distanzieren und individualisieren. Das kann eine äußere Trennung in jungen Jahren sein; eine Ausbildung oder ein Studium an einem anderen Ort oder ein Auslandsjahr helfen schon sehr, ein wenig von außen auf die eigene Familie zu schauen. Dann kann ich mich fragen, wo es unter Umständen lohnt, meine Eltern auch zu enttäuschen, weil mir so wichtig ist, was ich selbst möchte.“
Es lohne sich auf jeden Fall, darauf zu schauen, ob die Beziehung zu den Eltern im Alter von 30, 40 oder 50 Jahren stimmig erscheint, und sich klarzumachen, dass diese Verbindung auch dann wichtig ist, wenn sie zwischendurch für Jahre aus dem Fokus rückt. Denn Phasen, in denen die Beziehung zu den Eltern ruhe oder sehr ritualisiert und distanziert verlaufe, erlebten viele erwachsene Kinder.
Augenhöhe sollte möglichst lange gehalten werden
Die Sorge der Eltern für ihre Kinder kehrt sich oft am Ende in die Sorge der Kinder für ihre Eltern um. Otto zitiert die Paderborner Entwicklungspsychologin Heike M. Buhl, die in Befragungsstudien herausgefunden hat: Bis 45 Jahre ist das optimale Alter, in der sich Eltern und Kinder auf Augenhöhe fühlen. Da sind die Kinder erwachsen, die Eltern meist noch fit. „Im weiteren Verlauf, wenn die Eltern älter werden, kann und sollte man versuchen, diese Augenhöhe möglichst lange zu halten“, so Otto.
Der Weg zur Selbstständigkeit dauert also länger als vor einigen Jahrzehnten. Wobei: Sätze wie „Meine Tochter ist meine beste Freundin“ findet Otto etwas alarmierend. „Das kann zu nah sein und geht aller Wahrscheinlichkeit mit zu hohen Ansprüchen und zu großen Verpflichtungen einher.“
Schuldgefühle gibt es meist auf beiden Seiten
Schuldgefühle gibt es gerade zwischen Eltern und Kindern nicht selten – auf beiden Seiten. Wer ihnen nachspürt, treffe meist auf das, was etwas problematisch sei in der eigenen Familie, so Otto. Sind die Kinder, auch wenn sie erwachsen sind, verpflichtet, sonntags ihre Eltern zu besuchen? Oder umgekehrt: Müssen Eltern ihren Kindern bei der Betreuung der Enkel helfen? Schulden Eltern und erwachsene Kinder einander überhaupt etwas?
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Die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch sagt: Nein. Anne Otto findet das ein wenig zu radikal, aber der Gedanke könne für Menschen, die sich mit ihren Eltern nicht verstehen, sehr befreiend sein. Die Familientradition hochzuhalten, Feste gemeinsam feiern, sich emotional auszutauschen – das sei etwas, das man auch älteren Eltern immer wieder gut geben könne, auch wenn man sich nicht so gut versteht. Wenn es aber um große Themen gehe, beispielsweise die Pflege der dementen Mutter, müsse man nicht alles allein schultern, sondern sich auch Unterstützung holen.
Familie: Erziehung sollte von den Eltern übernommen werden
Umgekehrt müssten sich Eltern auch nicht unbedingt verpflichtet fühlen, sich um die Enkelkinder zu kümmern. „Da gibt es keine eingemeißelten Verpflichtungen“, sagt Anne Otto. Helfen die Eltern aber, sollten sie nicht versuchen, ihre eigenen Vorstellungen von Erziehung durchzusetzen, sondern ihre Kinder in der Elternrolle ihren eigenen Weg gehen lassen. Die ältere Generation, meint Otto, sollte schauen, wie sie wirklich entlasten kann – wenn sie dazu Lust hat.
Anne Otto stellt ihr Buch am 13.9. im Körber Forum (Kehrwieder 12) vor. Die Veranstaltung ist kostenlos, eine Anmeldung aber erforderlich: koerber-stiftung.de/veranstaltungen/fuer-immer-kind-1