Hamburg. Wegen des Personalmangels greifen Hamburger Firmen nun verstärkt auf Personen zurück, die länger ohne Job waren. Das sind die Gründe.

Sönke Fock versucht sich als Maurer. Er steckt in einem Exoskelett, das normalerweise in der Industrie bei kraftraubenden Tätigkeiten die Beschäftigten entlasten soll, und blickt nach vorne auf einen Flachbildschirm. Dort werden seine Bewegungen in einer virtuellen Umgebung gezeigt. Mit den Händen greift er nach einem Ziegelstein, hebt ihn hoch und will ihn auf eine halb fertige Mauer setzen. „Oh, das war zu weit“, sagt der Chef der Hamburger Arbeitsagentur. Er zieht die Hände ein Stück zurück und setzt ihn etwas wackelig auf die schon vorhandenen Steine. Aufgabe erledigt – aber das sei gar nicht so einfach, so Fock.

Die Arbeitswelt unterliegt einem ständigen Wandel. Das ist das Thema der neuen Ausstellung im Berufsinformationszen­trum MeerBiz, die bis Ende September von Interessierten in der Agentur an der Kurt-Schumacher-Allee 16 kostenlos besucht werden kann. Mit einer Virtual-Reality-Brille sind Zeitreisen in verschiedene Epochen möglich. Beispielsweise wird auf die Entwicklung des Computers und des Smartphones verwiesen – zwei Erfindungen, die bis heute nachhaltige Effekte auf die Welt der Beschäftigten haben und manches Berufsbild überflüssig machen.

Viele Fachkräfte durch Maschinen ersetzbar

Seit Jahren verweise man darauf, dass der Arbeitsmarkt in einer Transformation stecke, sagt Fock. Dafür sorgen die angestrebte Klimaneutralität, die Demografie und die Digitalisierung. Um seine Aussagen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterfüttern, hat er eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) mitgebracht. Sie gibt das sogenannte Substituierbarkeitspotenzial an. Es wurde also ermittelt, in welchem Ausmaß menschliche Arbeit durch den Einsatz von Computern und computerähnlichen Maschinen ersetzt werden kann.

So gingen die Forscher davon aus, dass von 2013 bis 2019 allein in Hamburg rund 60.000 Fachkräfte für Büro- und Sekretariatsarbeiten ersetzbar waren. Lagerarbeiter folgen mit gut 37.000 Personen. „Fachkraft- und Helferberufe haben ein höheres Substituierbarkeitspotenzial als Spezialisten- und Expertenberufe“, sagt Fock. Je höher die berufliche Qualifikation ist, umso weniger können Arbeitnehmer also durch Technik ersetzt werden.

Hamburger Unternehmen suchen Personal

Aber es gibt Ausnahmen: „Den klassischen Buchhalter gibt es nicht mehr“, sagt Fock und verweist damit auf einen Spezialistenberuf, der durch den Einzug der elektronischen Datenverarbeitung immer mehr an Bedeutung verlor. 10.800 solcher Jobs in der Hansestadt sahen die IAB-Forscher als gefährdet an. Wie viele dieser Jobs tatsächlich verschwanden, wurde nicht ermittelt. Für einen Ausblick seien zwar eigentlich die IAB-Forscher zuständig, aber für Fock ist das Ergebnis künftiger Studien relativ klar: „Dann werden sich diese Trends nochmals verstärken und beschleunigen.“

Durch den Einsatz von Technik wird allerdings auch Personal für andere Aufgaben frei. Und Engpässe gibt es derzeit offenbar vielerorts. „Die Arbeitskräftenachfrage Hamburger Unternehmen ist ungebrochen hoch, Arbeitsuchenden stehen so viele Stellenangebote zur Verfügung, wie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr“, sagt Fock. Im Arbeitgeber-Service der Agentur seien im August mehr als 13.800 freie Voll- und Teilzeitjobs gemeldet. Gesucht würden vor allem Fach- und Führungskräfte, zu besetzen seien insbesondere Vollzeitstellen. Der Wettbewerb unter den Betrieben gilt als sehr hart.

Firmen stellen häufiger Langzeitarbeitslose ein

Das liegt auch daran, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Hamburg erneut einen Rekordwert erreichte. Für den Juni (diese Statistik wird stets mit zwei Monaten Verzögerung aktualisiert) waren es in der Hansestadt 1.037.600 solcher Arbeitsstellen – 1400 mehr als im Mai. Für die Entwicklung habe es vier Branchen als Treiber gegeben: Grundstücks- und Wohnungswesen, Information und Kommunikation sowie Gastgewerbe und Zeitarbeit schufen Jobs. Erfreulich: Mittlerweile greifen immer mehr Firmen auf Langzeitarbeitslose zurück.

In dieser Gruppe werden Menschen erfasst, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind. In erster Linie handelt es sich dabei um ältere, gesundheitlich angeschlagene oder ungelernte Menschen. Im August wurden noch 24.292 Langzeitarbeitslose in Hamburg erfasst. Das sind immerhin 4408 weniger als im gleichen Vorjahresmonat. Fock spricht von einem „Riesenschritt“ und schiebt die Erklärung hinterher.

Integration zukünftig noch stärker gefragt

Zunächst würden Unternehmen Mitarbeiter einstellen, die erst vor Kurzem aus dem Beruf ausgeschieden seien und hohe Qualifikationen hätten. „Wenn man da nicht mehr Honig saugen kann, geht es zu der nächsten Gruppe“, sagt Fock. Er sei immer davon überzeugt gewesen, dass dies eine Frage der Zeit sein werde. Zudem belege dies, „auch diese Gruppe sucht Arbeit“ – allen Stigmatisierungen in der Öffentlichkeit zum Trotz.

In der Zukunft dürfte die Integration aller möglichen Kräfte in den Arbeitsmarkt noch stärker gefragt sein. Unter den gut eine Million sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Hamburg seien etwa 200.000 zwischen 55 und 65 Jahre alt. Sie werden also bald den Arbeitsmarkt verlassen. Die Gruppe der 15- bis 25-Jährigen bewege sich aber nur bei rund 140.000 – rein rechnerisch ergäbe sich daraus für die Beschäftigung perspektivisch eine Lücke von 60.000 Arbeitnehmern, rechnet Fock vor. Das erhöht die Notwendigkeit der Zuwanderung aus den Flächennachbarländern in der Metropolregion oder aus anderen Staaten.

Arbeitslosigkeit wieder gestiegen

Die Arbeitslosigkeit stieg im August den dritten Monat in Folge. 77.911 Menschen waren als Jobsuchende gemeldet. Das waren 1002 Personen oder 1,3 Prozent mehr als im Juli 2022. Der Grund dafür liege vor allem Hunderte Kilometer weiter östlich. „Der Anstieg der Arbeitslosigkeit begründet sich in der fortgesetzten Erfassung geflüchteter Menschen aus der Ukraine im Jobcenter, die seit dem 1. Juni 2022 Leistungen aus der Grundsicherung erhalten“, sagt Fock. Im August wurden 11.628 Ukrainer von Arbeitsagentur und Jobcenter betreut. Das sind 1280 mehr als im Vormonat und 11.006 mehr als im Vorjahresmonat. Von Juni bis August 2022 stieg die Zahl der arbeitsuchenden Frauen und Männer mit ukrainischer Staatsangehörigkeit von 7260 auf 9848.

Im Vergleich zum Vorjahresmonat sank die Arbeitslosenzahl in Hamburg um 0,8 Prozent. Die Quote lag vor einem Jahr noch bei 7,3 Prozent, nun notiert sie bei 7,2 Prozent – das sind allerdings 0,1 Prozentpunkte mehr als im Juli. Nach Bezirken lag die Arbeitslosenquote in Mitte mit 9,4 Prozent am höchsten und in Eimsbüttel mit 5,4 Prozent am niedrigsten. In Schleswig-Holstein betrug die Quote 5,4 Prozent, die Zahl der Arbeitslosen stieg im Vergleich zum Juli um 1200 auf 85.200. In Niedersachsen lag das Plus bei 9275 auf 245.390 Erwerbslose, die Quote stieg auf 5,6 Prozent. So hoch war auch die Quote im Bund, deutschlandweit gab es 2,55 Millionen Arbeitslose – plus 77.000.

Arbeitsmarkt Hamburg: Gute Aussichten für Einsteiger

Für Berufseinsteiger seien die Aussichten auf eine Lehrstelle nach wie vor gut, sagt Fock. Die Ausbildungsbetriebe würden händeringend Nachwuchs suchen. Seit Beginn des Berichtsjahres im Oktober 2021 seien der Agentur 9372 Ausbildungsstellen gemeldet worden. Anfang August waren noch knapp 3200 frei oder befanden sich im Besetzungsverfahren.