Hamburg. Essstörungen, Albträume, Aggressionen: Eine Chefärztin erzählt, was Corona mit den Jüngsten macht und wie Eltern helfen können.
Diese Pandemie, die leider noch nicht vorüber ist, hat Spuren hinterlassen. In unserem Alltag, in unserem Verhalten, aber vor allem auch in den Seelen - insbesondere auch in jenen von Kindern und Jugendlichen. Darüber berichtet Dr. Meike Gresch, die als Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Asklepios Klinikum Harburg mit ihrem Team viele junge Patienten jeder Altersstufe behandelt.
„Wir haben durch Corona in den vergangenen anderthalb Jahren mehr psychische Notfälle verzeichnet als zuvor. Angst- und Essstörungen, aber auch depressive Tendenzen und aggressives Verhalten haben zugenommen“, so die Expertin.
Corona Hamburg: Kind spürt den Stress der Eltern
Das, was Mediziner als „Regulationsstörung“ bezeichnen, könne sich schon bei Säuglingen zeigen. „Der Volksmund spricht dann von Schreibabys. Wir haben aber auch viel mit Neugeborenen zu tun, die sich mit der Nahrungsaufnahme schwertun oder überhaupt nicht zur Ruhe finden.“ Dies fordere die Eltern in ohnehin schon schwierigen Zeiten, in denen mancher Angst vor Jobverlust habe oder von wirtschaftlichen Sorgen geplagt sei, extrem heraus. „Es ist ein Kreis, denn das Kind spürt natürlich auch, wenn die Eltern unter Stress sind.“
Dies gelte übrigens für Kinder jeden Alters. Dr. Meike Gresch erzählt von einem Jungen im Grundschulalter, dessen Eltern in der Gastronomie beschäftigt waren und durch die Lockdowns plötzlich ohne Arbeit waren. „Der Junge hat sich immer mehr in ein Schneckenhaus zurückgezogen, sein eigenes Leben gar nicht mehr gelebt. Stattdessen hat er versucht, den Eltern zu helfen.“ Parentifizierung nenne man diese ungesunde Rollenumkehr, die gar nicht so selten vorkomme und für Kinder und Jugendliche eine hohe Belastung und Überforderung bedeuten könne.
Auf diese Warnsignale können Sie bei Ihrem Kind achten
Doch woran erkenne ich, dass mein Kind oder Enkel unter den Folgen der Corona-Pandemie leidet oder es grundsätzlich Hilfe benötigt? „Es ist natürlich sehr individuell“, sagt die Chefärztin. „Es gibt eine Vielzahl von Verhaltensweisen, die Warnsignale sein können.“
Dazu zähle bei Kita-Kindern vermehrtes Einnässen, obwohl sie schon trocken waren. Wenn das Sprechen plötzlich wieder rückständiger werde, sei das Grund zur Besorgnis. Auch anhaltende Trennungsängste, beispielsweise morgens, wenn es Zeit für Kindergarten oder Schule sei, könnten ein Zeichen für mangelndes Selbstwertgefühl sein. „Viele Kinder haben in den vergangenen zwei Jahren kaum soziale Kontakte gehabt, sich nur über den Bildschirm ausgetauscht oder mit Menschen, die Masken trugen. So leidet das Kommunikationsvermögen, wir lernen nicht mehr, einander zu lesen.“
Eltern sollten mit den Lehrkräften sprechen
Als Kinder- und Jugendpsychiaterin hoffe sie daher sehr, dass die Schulen und Kitas geöffnet bleiben, auch falls sich die Pandemie im Herbst noch einmal verschärfen sollte. Sollten Sie bei ihrem Kind anhaltend Erschöpfung, eine tiefe Traurigkeit, Albträume oder auch eine Rückzugstendenz bemerken, sei der erste Schritt, das Kind altersgerecht auf die Beobachtung anzusprechen.
„Ein zweiter Schritt wäre es, das Gespräch mit Erziehern und Lehrern zu suchen, ehe man den Kinderarzt des Vertrauens konsultiert“, sagt die gebürtige Hamburgerin, die in Kiel Medizin studiert hat. Erst dann sei womöglich eine Beratung durch einen Kinder- oder Jugendpsychiater angezeigt. „Ja, es gibt vermehrten Bedarf, und Anmeldezeiten sind eine Realität“, gibt die Chefärztin zu, „aber ich glaube, wir Kollegen können Notfälle schnell erkennen und dann entsprechend priorisieren.“
Folgen wird Gesellschaft lange weiterbeschäftigen
Manchmal müssten Kinder auch stationär betreut werden, die Klinikschule besuchen. „Das gilt für Kinder und Jugendliche, die keine Kraft mehr für den Alltag aufbringen können.“
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Die Folgen der Pandemie, da ist sich Dr. Meike Gresch sicher, wird uns als Gesellschaft noch einige Zeit lang weiterbeschäftigen. „Natürlich gibt es Millionen Kinder in diesem Land, die gut durch die Zeit gekommen sind und auch weiterhin kommen, aber es gibt eben auch viele, die sich um die Zukunft sorgen und bei denen die Pandemie Spuren hinterlassen hat“, sagt die Mutter eines zweijährigen Kindes.
Corona Hamburg: Eltern sollten sich von Druck frei machen
Wird sie als Expertin eigentlich oft nach Erziehungstipps gefragt? „Kommt vor. Ich sage: Machen Sie sich frei von dem Druck, perfekt sein zu müssen. Lösen Sie sich von den Erwartungen der Außenwelt und erlauben Sie sich, sich in ihr Kind hineinzuversetzen.“