Hamburg. Steiler Aufstieg, tiefer Fall – seit dem Ukraine-Krieg ist der Altkanzler geächtet. Wie ist das passiert? Der zweite Teil der Analyse.
Schröder und Putin haben sich gefunden, gesamtgesellschaftlich besiegelt und kitschig illustriert mit Schlittenfahrt und Geburtstagsbesuchen. Morgens um drei schmettern die Herren das Lied der Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen. Die damaligen Schröders adoptieren gegen geltende Regeln zwei Kinder aus Russland. Aber taugen Geheimdienstler mit berufsbedingt paranoidem Weltbild wirklich zum Freund? Der Bundesnachrichtendienst soll früh gewarnt haben, dass Putin die Nähe gezielt aufgebaut habe.
Knapp zwei Wochen vor Schröders Abwahl 2005 wird die Geburtsurkunde von Nordstream unterzeichnet, im Beisein der Freunde. Wenig später übernimmt Schröder die Spitze des Aufsichtsrats der Nordstream AG, gegen jede Abstandsregel für Politiker a. D.. Grünen-Chef Bütikofer spricht von „lupenreiner Vetternwirtschaft“. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine eskaliert.
Phase 2: Augenhöhe und Abhängigkeit
Was tun, wenn man die Macht verliert, aber noch nicht genug hat davon? Vehement widersprach Schröder einst seinem besten Interpreten, dem verstorbenen „Spiegel“-Reporter Jürgen Leinemann, der Politikern einen „Höhenrausch“ diagnostizierte, ein vornehmeres Wort für Sucht: „Politik ist keine Droge. Politik macht nicht abhängig. Das ist keine Sucht.“ Aber es geht auch nicht um Politik. Es geht um Macht.
Macht lässt Dopamin sprudeln, das wie Kokain oder Sex wirkt. Macht reduziert die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Neurologen wissen: Macht verändert auf Dauer die Persönlichkeit, macht rücksichtsloser, egomanischer und wird eines Tages als selbstverständlich empfunden.
Gerhard Schröder: Vom Kanzler zum Dienstleister
Die Tage nach der Abwahl müssen sich wie kalter Entzug angefühlt haben. Unternehmer fragen an. Vom Kanzler zum Geschäfteanbahner, zum Dienstleister, fast so wie früher in Lemgo, als „Mach mal“ in Brands Haushaltswarenladen. Eine lupenreine Demütigung. Während andere rot-grüne Alphas wie Vize-Kanzler Fischer oder Skatkumpel Schily sich tapfer in den Entzug und die Geschäftswelt begeben, will Schröder weiter mitspielen. Und er weiß auch, wie. In nahezu jedem seiner Bücher widmet er sich der Bedeutung von Energie für die modernen Gesellschaften und als globales Machtinstrument, von Moskau bis Katar.
Russisches Gas bietet Zugang in eine weltweite Clique, die außerhalb jeder staatlichen Ordnung operiert. In verblüffender Eintracht bevölkern Silicon-Valley-Unternehmer, Finanzjongleure, Waffenhändler, Oligarchen und Scheichs ein Paralleluniversum. Sie wohnen, wo es angenehm ist, verstecken ihr Geld, haben Fluchtorte eingerichtet, die Yacht jederzeit zum Auslaufen bereit. Sie brauchen keine Staaten, aber Staaten brauchen sie.
Gerhard Schröder: Putin verschafft ihm eine neue Aura
Putin gewährt seinem entmachteten Freund kaum exekutive Macht, aber den Eintritt in diese Welt. Der exklusive Draht in den Kreml verschafft Schröder eine neue Aura. Er hat das Putin-Monopol für Deutschland. Und wer das Monopol hat, hat die Macht. Selbst die Kanzlerin soll bisweilen um Hilfe gebeten haben, wenn es wieder mal klemmte mit Moskau. Deutschland rümpft ein wenig die Nase, ist aber zugleich froh über den Sonderbeauftragten, der für billige Energie sorgt.
Und die Freundschaft? Wandelt sich. Staatschefs begegnen sich auf Augenhöhe. Doch Schröder ist jetzt abhängig Beschäftigter. Und bekommt noch einen Aufpasser. Der ehemalige Stasi-Major Matthias Warnig, der gleich nach der Wende zum wichtigsten westlichen Banker in Moskau aufstieg, kennt Putin zehn Jahre länger als Schröder und ist bei Nordstream mit dabei. Still kaufen Rosneft und Gazprom deutsche Raffinerien und Netze inklusive des Krisenspeichers im niedersächsischen Rehden, der im letzten Winter leer war wie nie zuvor. Abhängigkeit? Ach was. Russland hat immer geliefert.
Phase 3: Der eingefrorene Freund
Putins Wertesystem, so der Philosoph Richard David Precht, funktioniere nach einer Agentenlogik, die nur zwei Pole kennt: Loyalität und Verrat, nicht zu verwechseln mit Freund oder Feind. Loyalität braucht keine Freundschaft, sie kann erkauft werden oder erzwungen, etwa mit einer Prise Polonium. Es widerspräche jeder KGB-Routine, wäre über Schröder nicht, von wem auch immer, vorsorglich Kompromat gesammelt worden, Belastungsmaterial als Loyalitätssicherung. Putin gurrt nicht mehr, er verbirgt sich. Vielleicht ein halbes Dutzend Männer haben noch direkten Kontakt. Der Altkanzler gehört nicht dazu. Gilt der deutsche Staatsbürger Schröder in Putins binärer Matrix als loyal oder Nato?
Ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht die Männerfreundschaft am 15. März. Der Beschwichtiger Schröder steht nach dem Einmarsch wie ein Trottel da. Nur der Freund im Kreml kann helfen. Ehrensache. Ehrenmann. Doch Putin düpiert Schröder erneut. Und Gattin Soyeon illustriert die Blamage auch noch als Instagram-Ikone. Schröder ist an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
Gerhard Schröder hat seinen Meister gefunden
Mochten sie ihn alle verdammen, aber sie haben ihn immer respektiert. Putin hat die Machtaura zerstört. Und nun? Kündigt Schröder die Freundschaft, müsste er eine historische Fehleinschätzung gestehen. Diese Schwäche erlaubt er sich nicht. Hält er die Treue, führt er das Leben eines Entehrten. Endstation Sackgasse.
Wladimir Putin friert Konflikte ein, um sie bei Bedarf wieder aufzutauen. So geht eiskaltes Machtspiel. Schröder hat seinen Meister gefunden. Er ist zum eingefrorenen Freund geworden, bestenfalls.
Schröder und die Deutschen – die Geschichte einer Entfremdung
Schröder-Kenner Leinemann beschrieb den jungen SPD-Politiker einst als „freches ländliches Schmuddelkind mit nachträglicher akademischer Linksverseuchung“, das unentwegt nach Anerkennung jagt. Anders als die theoretisch gebildeten Sozialdemokraten zeichnete Schröder stets sein animalischer Wille aus. Meine erste Begegnung mit Schröder vor 25 Jahren glich einem Naturereignis.
Dieser Kraftbolzen stand immer und überall im Mittelpunkt. Er beherrschte alle Tricks archaischer Führungsstärke, strafte Schwätzer durch Ignorieren, kommandierte Untergebene mit Fingerzeigen, schaffte mit einem einzigen Blick Distanz oder Vertrautheit. Schröder beherrschte das Pavianspiel virtuos: In jeder Horde war er der selbstverständliche Anführer. Alle rochen diese Urkraft, die man auf keinem Führungskräfteseminar lernt.
Gerhard Schröder war ein Alpha-Männchen
Es war 1997, als ich neben dem niedersächsischen Ministerpräsidenten auf der Rückbank der gepanzerten Karosse durch den Harz kurvte. Schröder war auf der Jagd nach den Sympathien der Mittelgebirgsmittelständler. Er hatte die Niederlage gegen Rudolf Scharping 1994 weggesteckt, jetzt musste er an Oskar Lafontaine vorbei, der sich an die SPD-Spitze geputscht hatte. 1998 war Kanzler Kohl fällig, das war klar. Ein solches Alpha-Männchen hatte ich junger Reporter noch nie erlebt in der Politik, die Mischung aus Charme, Ego, Tempo, Mut und Rotzigkeit.
Von Leinemann hatte ich gelernt, dass man Politiker hart kritisieren und durchaus respektieren kann, weil manche eben diese beiden Pole in sich tragen, die gestaltende und die zerstörerische Macht. Mit seiner Aufstiegsstory, Höhenflug und aktuellem Absturz vereint Schröder gleich drei große deutsche Mythen: Malocher-Ethos, Siegerromantik und Untergangslust.
Schröder war immer provokant unterhaltsam
Wie Thomas Gottschalk im Fernsehen repräsentierte der Bundeskanzler Schröder ein Deutschland, für das man sich erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr entschuldigen zu müssen glaubte. Deutschlands Verantwortung für die Hitlerei nahm der Mann ernst, eine seiner ersten Amtshandlungen war die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern. Zugleich war der Blick nach vorn gerichtet, passend zur Aufbruchsstimmung der Jahrtausendwende.
Schröder war, wie Deutschland sich gern sehen wollte, ein vorweggenommenes Sommermärchen, patriotisch, aber nicht nationalistisch, links, aber liberal, Macho, aber nicht so schlimm wie früher und immer provokant unterhaltsam: „Bild, BamS, Glotze“ – „Hol mir mal ’ne Flasche Bier, sonst streik’ ich hier“ – „Aufstand der Anständigen“ – „Familie und das ganze Gedöns“. Für alle war was dabei.
Deutschland vertraute Schröder blauäugig
Selbst sein verdächtig rascher Wechsel aus dem Kanzleramt zum russischen Gasgiganten regte die Deutschen nur mäßig auf. Immerhin hatte Schröder seine Zeit als Politiker ohne belegbare Vorteilsnahmen für sich oder die Partei durchgestanden. Dass einer, der gern schicke Anzüge trug, nun endlich Kasse machen wollte, war zwar nicht sozialdemokratisch korrekt, aber nachvollziehbar. Zugleich spielte er die Heldennummer weiter, für sich, aber auch für Deutschland. Schröder traute sich nach Moskau, ins moderne Mordor. Mit viel gutem Willen sah die Ostpolitik per Gashahn so aus wie die ökonomische Fortsetzung Brandtschen Entspannungsstrebens.
Zwar bot Schröders Milliardenspiel mit dem Imperialisten Putin von Anfang an Grund zur Skepsis. Aber Deutschland vertraute lieber blauäugig darauf, dass Schröder die Sache im Griff habe. Bei der Agenda 2010 hatte er ja auch recht behalten.
Merkels Abwahl änderte alles
Das billige Gas, die leichtfertige Mitnahme-Mentalität und das demonstrative Gutgehenlassen spiegelte eine verbreitete Stimmung im Volk wider, die die machtschlaue Merkel trocken weiterbediente: das Verharren in einer ewigen satten Gegenwart. Weder Finanzkrise noch Fukushima konnten ein naives Land irritieren, das seine Bundeswehr quasi abschaffte, ökonomischen Zuwachs vor allem aus China bezog und den Treibstoff günstig von Putin. Der SUV war als Norm akzeptiert, der Staat sicherte das Sparbuch. Nur einmal wurde das Idyll gestört, im Flüchtlingswinter 2015/16. Ansonsten hatte das Böse draußen zu bleiben.
Mit Merkels Abwahl im Herbst 2021 allerdings erlebt Schröder eine neue Lage. Helmut Kohl, durch die CDU-Spendenaffäre tief getroffen, hatte sich zurückgezogen und war 2017 leise verstorben. Schröder hatte den Posten des Altkanzlers lange für sich allein und damit dessen Interpretation. Doch nun wird er plötzlich vergleichbar. Schröders Absturz ist nicht ohne Merkel zu verstehen. Die Nachfolgerin hatte in ihrer protestantischen Unschröderhaftigkeit offenbar keine lukrativen Jobs für danach eingefädelt, blieb im Ruhestand quälend immun gegen Macht und Geld, wollte einfach nur ausspannen. Und zeigte nach dem Überfall Putins auf die Ukraine, dass sie das Spiel der politischen Rollenzuteilung meisterhaft beherrscht.
Angela Merkel dementierte Nähe zu Putin
Hilflos musste Schröder mit ansehen, wie elegant sich Angela Merkel aus der Putin-Falle wand. In einem ihrer raren Auftritte seit der Demission erklärte die Altkanzlerin staatstragend, dass sie aus ihrer Zeit hinter dem Eisernen Vorhang die Demokratie zu schätzen gelernt habe, Putin aber verachte sie. Das richtete sich natürlich gegen Schröder, dem der „lupenreine Demokrat“ wie ein Mehlsack um den Hals hing. Das Publikum klatschte und liebte die Frau mehr als je zuvor. Auf einmal bekamen Schröders Orchideen-Filmchen auf Instagram etwas gruselig Surreales. Und die Moskauer Männerfreundschaft erst recht.
Merkel hatte einmal mehr erobert, was auf dem politischen Schlachtfeld wirklich zählt: die Deutungshoheit. Ab sofort war sie die wahre Putin-Versteherin und repräsentierte damit den Stimmungsschwenk in einer Gesellschaft, die den russischen Präsidenten jetzt auch sehr kritisch sah.
Gerhard Schröder hatte Merkel unterschätzt
Wie damals in der Elefantenrunde 2005 hatte Schröder die Lage allgemein und besonders diese Frau unterschätzt. Sie, die der gefährlichen Abhängigkeit von Putins Gas nie entgegengewirkt hatte, hatte den geballten Zorn des Landes eiskalt auf den Vorgänger gelenkt und das Volksgericht überzeugt. Enttäuscht von sich selbst und wütend ob der eigenen Naivität hatte das Land seinen Schuldigen gefunden, teils zu Recht, teils, um sich selbst zu entlasten. Die Deutschen verachten Schröder ja nicht für sein Anderssein, sondern auch für all die Ähnlichkeiten. Er ist Verdammter und Spiegelbild zugleich.
Kann sich ein vereinsamter, gealterter Schröder noch einmal aus dieser Ächtung befreien? Wie stark ist der Glaube, jede noch so aussichtslose Lage am Ende zu seinen Gunsten drehen zu können?
„Mea culpa ist nicht mein Ding“
Zunächst herrschte hilfloser Trotz. „Mea culpa ist nicht mein Ding“, erklärte er im alten Mossenberg-Sound, der nun nicht mehr cool, sondern hilflos klang. Mochte er auch beteuern, dass sein Draht zu Putin besser sei als kein Draht – die Republik empörte sich lieber über die Unmengen Wein, die er während eines Interviews mit der „New York Times“ verputzt haben soll. Aller Respekt war dahin, Schröder lieferte nur noch tragischen Kitsch für die blutigbunten Seiten.
Ein Wirt erteilt Hausverbot, das Lametta wird ihm abgenommen, die Stadt Cuxhaven forderte den einst feierlich verliehenen Ehrenring zurück. Er könne das gute Stück nicht finden, ließ Schröder ausrichten. Mit tückischer Fürsorge appellierte FDP-Haudegen Wolfgang Kubicki mitten in die Demütigungen hinein, Schröder nicht zu demütigen. Zu spät. Die Hilflosigkeit war nicht zu übersehen.
Gerhard Schröder wird nichts Friedenstiftendes bewegen
Die gescheiterten Moskau-Trips zeigen, dass Schröder aus eigener Kraft nichts Friedenstiftendes wird bewegen können. Was bleibt, ist Hoffnung. Vielleicht geht was im Gespann mit dem türkischen Staatschef. Aber warum sollte der reputationsversessene Erdogan einen möglichen Vermittlerruhm teilen? Ob Putin ihm doch noch eine entscheidende Rolle gewährt? Eher nicht. Von Moskau aus gesehen steht ein deutscher Altkanzler im Machtspiel eher am Rand, da hilft keine Freundschaft. Der russische Außenminister Lawrow telefoniert direkt mit seinem US-Kollegen Blinken, auch die Weizentransporte laufen ohne Schröders Zutun an.
- Gaspreise in Hamburg steigen stark – was Kunden tun können
- Preisexplosion bei Lebensmitteln: Händler rechnen mit Folgen
- Russland ist raus – wie es am Desy jetzt weitergeht
Und nun? Wie weiter? Schwer vorzustellen, dass Schröder eine reuevolle Umkehr hinlegt. Sein Selbst- und Weltbild wäre zerstört und Putins Rache nicht auszuschließen. Exil in einer Villa am Schwarzen Meer? Ziemlich langweilig und auch ein Eingeständnis. Bleibt vorerst nur das Exil im eigenen Land, auf einer Insel namens Hannover, wo er bisweilen allein bei seinem Lieblingsitaliener gesehen wird. Einsamkeit erdulden, nicht unterkriegen lassen. Das alte Heldenmantra vom Durchhalten um jeden Preis. Das Drama ist noch nicht zu Ende.