Hamburg. Im Zuge des Ukraine-Krieges wurde die Kooperation mit Russland beendet. Was das für das umgewidmete Projekt „Eurizon“ bedeutet.

Es galt als das Leuchtturm-projekt für eine Kooperation zwischen Großforschungseinrichtungen in Russland und der Europäischen Union: „Cremlinplus“ sollte gemeinsame Experimente in Anlagen etwa bei Moskau und St. Petersburg unterstützen, die Entwicklung neuer Detektortechnologien fördern – und es sah ein Trainingsprogramm für russische und europäische Forschungsmanager vor.

Für die geplante Laufzeit von 2020 bis 2024 wollte die EU rund 25 Millionen Euro Fördergeld bereitstellen. Die Koordination des Konsortiums mit 35 Partnern, zehn davon aus Russland, übernahm das Deutsche Elektronen-Synchrotron (Desy) in Hamburg. Dessen Chef Helmut Dosch hoffte auf eine „interessante und fruchtbare“ Zusammenarbeit.

Hamburger Forschungszentrum will Projekt retten

Doch seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar droht dem gesamten Vorhaben der Zusammenbruch. Die Geld gebende EU-Kommission hat im Zuge ihrer Sanktionen gegen Russland den Rauswurf der zehn russischen Partner aus Cremlinplus veranlasst – „termination of participation“ nennt man in Brüssel diesen Prozess. Das Desy soll die „Beendigung der Teilnahme“ mitorganisieren.

Zugleich kämpfen das Hamburger Forschungszentrum und die anderen europäischen Partner für eine Fortsetzung ihrer Kooperationen und gegen den möglichen Verlust von EU- Fördergeldern bis 2024. „Im Konsortium herrschte schnell Einigkeit: Wir müssen das Projekt retten und die Ausrichtung auch der politischen Arbeitsteile an die neue Situation anpassen“, sagt Martin Sandhop, Leiter der Einheit Internationales am Desy. In den vergangenen Monaten schrieben die europä­ischen Partner das Programm um und wählten einen neuen Titel: „Eurizon“. Die Abkürzung steht für: Europäisches Netzwerk zur Entwicklung neuer Horizonte für Forschungsinfrastrukturen.

23 Stipendien für ukrainische Forschende geplant

Neue wissenschaftliche Perspektiven sollen sich künftig statt für Russland vor allem für jenes Land ergeben, das seit dem russischen Überfall um sein Überleben kämpft. Schon zum Vorgängerprogramm Cremlinplus gehörte seit 2020 das Institut für Kernforschung der Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Zusätzlich wollen die europäischen Partner nun in dem umgewidmeten Projekt „Eurizon“ das National Science Center Kharkov Institute of Physics and Technology aufnehmen, eine der ältesten und renommiertesten Forschungseinrichtungen der Ukraine.

Neu geplant sind 23 Stipendien für ukrainische Forschende in Not, die damit für ein Jahr an europäischen Partnerinstituten arbeiten oder ihre Arbeit in der Ukraine finanzieren können. In wenigen Wochen, so Martin Sandhop, erwarte das Konsortium eine Antwort von der EU-Kommission, ob und in welche Richtung das Vorhaben weiterlaufen könnte.

Auch russische Forschende leiden unter dem Krieg

Wie berichtet, hatte das Desy bereits seine mindestens 25 Forschungskooperationen und Projekte mit russischen Einrichtungen gestoppt und damit einen „sehr signifikanten Teil“ seiner Auslandskooperationen auf Eis gelegt. Das ist nicht nur bitter für die Hamburger. „Ein Großteil der früheren Forschungspartner aus Russland sind Menschen, die der Intelligenzija angehören und der aktuellen Politik Russlands nicht zustimmen, aber nicht in der Lage sind, ihre Kritik zu äußern, ohne sich selbst zu gefährden“, sagt Martin Sandhop, der früher das Büro der Helmholtz-Forschungsgemeinschaft in Moskau leitete. „Wir sehen in der jetzt spärlich verlaufenden Kommunikation mit einzelnen Forschenden aus Russland, dass die Situation auch für sie schwer zu ertragen ist.“

Einige russische Institute, zu denen die Hamburger bis Mitte Februar enge Beziehungen pflegten, liegen allerdings ganz auf Putins Linie, wie Desy-Chef Helmut Dosch sagte. Er sei entsetzt insbesondere über die Haltung des renommierten Kurtschatow-Instituts und habe den Ehrendoktor-Titel zurückgegeben, den ihm die Moskauer Einrichtung verliehen hatte. „Es ist eine rote Linie überschritten worden, wo wir nicht mehr neutral bleiben können“, erklärte Dosch.

Auch European XFEL setzt Kooperationen aus

Dabei hat die Zusammenarbeit der Hamburger mit russischen Physikern eine lange Tradition. Schon in den 1970er-Jahren knüpften „Desyaner“ erste Kontakte zu Forschenden in der damaligen Sowjetunion. Zusammen führten die Wissenschaftler Teilchenphysikexperimente an den Hamburger Anlagen „Doris“ und „Hera“ durch. Es folgten viele Kooperationen in der Forschung mit Beschleunigern, Photonen und in der Astroteilchenphysik.

Bestehende Kooperationen mit russischen Einrichtungen ausgesetzt hat auch die Forschungseinrichtung European XFEL im schleswig-holsteinischen Schenefeld, die den weltweit größten Röntgenlaser betreibt. Wegen der EU-Sanktionen können russische Wissenschaftler als externe Nutzer derzeit nicht am European XFEL arbeiten – im Jahr 2021 nutzten 30 externe Forschende aus Russland in der Anlage „Strahlzeit“ für ihre Experimente. Zur XFEL-Belegschaft gehören 29 Menschen mit russischem Pass, zehn Mitarbeitende stammen aus der Ukraine.

Krieg beeinflusst die künftige Zusammenarbeit stark

Die Zusammenarbeit mit russischen Forschenden, die als externe Nutzer nach Schenefeld kamen, sei „immer sehr gut“ gewesen, sagt Robert Feidenhans’l, Vorsitzender der Geschäftsführung der European XFEL GmbH. „Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist jedoch derzeit schwer vorstellbar, ob und wie wir hieran wieder anknüpfen können.“

Aber: Noch gehört Russland zum Kreis der elf internationalen Gesellschafter der GmbH. Seinem Anteil von 26 Prozent entsprechend muss Russland rund 37 Millionen Euro der jährlichen Betriebskosten von 140 Millionen Euro übernehmen. Für 2022 habe das Land diesen Beitrag schon gezahlt, sagt European XFEL-Sprecher Bernd Ebeling. Gesellschafter zu sein heißt allerdings nicht, über eine bestimmte Nutzungszeit in der Anlage für Forschende aus dem eigenen Land verfügen zu können. Vielmehr steht der Röntgen­laser Wissenschaftlern aus aller Welt offen. Sie müssen sich bewerben; ihre Experimentvorschläge durchlaufen ein Begutachtungsverfahren (Peer-Review).

Hamburger Forschungszentrum: Neuanfang rückt in die Ferne

Wenn Russland als XFEL-Gesellschafter austreten wollte, wäre dies unter Berücksichtigung der Kündigungsfrist frühestens zum Jahr 2026 möglich. Gibt es Überlegungen, Russland zu einem Austritt als Gesellschafter zu bewegen? „Die Entscheidung darüber treffen die Mitglieder des European XFEL Council“, sagt Robert Feidenhans’l. „Bislang werden nur zeitlich begrenzte Maßnahmen diskutiert.“ Martin Sandhop vom Desy schweigt für einen Moment auf die Frage, wann eine Zusammenarbeit mit russischen Forschungseinrichtungen wieder möglich werden könnte.

„Ein vorstellbarer Neuanfang rückt aus meiner Sicht in immer weitere Ferne“, sagt er. „Es geht wahrscheinlich um Jahre.“ Falsch wäre es allerdings, einen solchen Neuanfang ganz aus dem Blick zu verlieren, so Sandhop. „Man muss aufpassen, dass man nicht alles Russische ablehnt. Es ist wichtig, einen differenzierten Blick zu erhalten.“