Hamburg. Chefredakteur Lars Haider und Wissenschaftler Dieter Lenzen sprechen über die Frage, wie Politik und Moral zusammenpassen.
In ihrem gemeinsamen Podcast „Wie jetzt?“ unterhalten sich Lars Haider und Dieter Lenzen über Themen, die Wissenschaft und Journalismus gleichermaßen bewegen.
Lars Haider: Das Thema, über das wir heute sprechen wollen, haben wir in den vergangenen Wochen oft gestreift: Wo endet die Politik, wo beginnt die Moral?
Dieter Lenzen: Die Menschen, die diese beiden Begriffe miteinander vergleichen, unterstellen, dass Politik moralfrei oder moralreduziert ist. Es gibt einen bekannten österreichischen Philosophen namens Robert Pfaller, der es so formuliert hat: „Moral in der Politik ist eine Verfallserscheinung.“ Das heißt, der Versuch, in die Politik Moral einzubeziehen, und sei es nur rhetorisch, ist systemfremd. Dafür spricht einiges, zum Beispiel die sogenannte Systemtheorie. Die beschäftigt sich mit der Frage, welche Codes in bestimmten gesellschaftlichen Systemen zulässig sind. Im politischen System folgt der Code der Frage der Macht – nur darum geht es in der Politik.
Das heißt, es geht gar nicht um Moral.
Lenzen: Genau. Es geht darum, die Macht zu haben, um die Interessen derjenigen, die man vertritt, auch wirklich wahrnehmen zu können. Der Wähler und die Wählerin erwarten, dass sich ein Politiker zuallererst an ihren Wünschen und Bedürfnissen orientiert, nicht an moralischen Vorstellungen.
Der deutsche Kanzler ist zum Beispiel und in erster Linie verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.
Lenzen: Das ist seine Verantwortung.
Aber das darf ja nicht dazu führen, dass man menschliches Leid woanders ignoriert und nur darauf achtet, dass es den eigenen Wählerinnen und Wählern gut geht.
Lenzen: Deshalb muss ein Politiker sagen, dass es auch zu seiner Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk gehört, zum Beispiel etwas für die Menschen in der Ukraine zu tun, weil unser Land als humane Gesellschaft operieren muss. Wenn wir die Werte, die wir anderswo einfordern, nicht selbst vertreten, werden wir schnell unglaubwürdig.
Was ist Moral eigentlich?
Lenzen: Wir müssen zwischen Moral, Verantwortung und Ethik unterscheiden. Moral ist der wenig verrückbare Kern der Grundüberzeugungen, die ein Mensch, eine Gruppe oder eine Nation haben. Davon unterscheiden muss man die Verantwortung, die Politiker vor dem Hintergrund universeller Menschenrechte haben, vernünftig zu handeln. Das eine ist eine Art Kompass, die Verantwortung meint die Steuerung eines Bootes anhand der Vorgaben dieses Kompasses.
Und diesen Kompass muss man als Politiker mitbringen, in sich tragen und bereit sein, sich daran zu orientieren, auch wenn es das politische System per se nicht erfordert.
Lenzen: Das ist in etwa, was man als Wählerin oder Wähler im Auge behalten muss. Nun verstehen Politikerinnen und Politiker es durchaus, so zu tun, als ob sie diesen Kompass in sich haben. In den vergangenen Wochen haben wir einen ehemaligen Bundeskanzler erlebt, bei dem man erhebliche Zweifel haben kann, ob es diesen moralischen Kompass jemals gegeben hat.
Hatte er den nie oder hat er ihn verloren?
Lenzen: Die berühmte Geschichte von Gerhard Schröder, der am Zaun des Bundeskanzleramts gerüttelt und gerufen haben soll, dass er dort hineinwolle, spricht dafür, dass sein Durchsetzungsmotiv nicht die Moral, sondern der eigene politische Erfolg war. Ein egozentrisches Weltbild, das sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Ich will Macht haben. Übrigens gibt es nicht nur den Gegensatz von Politik und Moral. Man kann genauso gut fragen, wie eigentlich das Verhältnis von Politik und Wahrheit ist.
Gregor Gysi sagt, dass es in der Politik um Mehrheiten geht und nicht um Wahrheiten.
Lenzen: Um Wahrheiten geht es in der Wissenschaft, das ist unser Kommunikationscode, an den sich Politik aus den eben genannten Gründen nicht halten muss. Aber es ist trotzdem klug, es zu tun. Entscheidungen zu treffen, die den bekannten Wahrheiten aus der Wissenschaft widersprechen, kann sehr töricht sein. Wie töricht, hat in Teilen die Corona-Pandemie gezeigt.
Aber um an die Macht zu kommen, muss man nach den Regeln der Macht und nicht nach jenen von Wahrheit und Moral spielen, das können wir festhalten.
Lenzen: Das bedeutet, sich nach Mehrheiten umschauen zu müssen, Vertrauen aufzubauen – und wenn es nur Kumpanei ist, in Hinterzimmern wie auf Parteitagen. Das ist ein langer Weg.
Ist unsere Demokratie aus sich heraus also ein unmoralisches System?
Lenzen: Sie ist nicht unmoralischer als andere Systeme auch, in denen politisch gehandelt wird.
Aber sie ist eben auch nicht moralischer …
Lenzen: Das kann sie auch nicht sein. Die Demokratie hat aber den Vorteil, dass sie sich nach dem unterstellten Willen der Wählerinnen und Wähler richtet und nicht nach der Meinung eines einzelnen Herrschers, der macht, was er will. Wer verspricht, die Interessen der Menschen seines Landes zu verfolgen, ist prinzipiell schon auf dem richtigen Weg.
Je stärker das eigene Interesse eines Herrschers ist, und sei es nur an seinem Machterhalt oder seinem Reichtum, desto amoralischer ist also ein System, siehe das System Wladimir Putin?
Lenzen: Der moralische Kompass, den Putin für sich beanspruchen würde, wäre: Ich tue das Beste für das russische Imperium. Er wägt nicht ab, etwa im kantschen Sinne, dass selbst das Opfern eines einzelnen Lebens für diesen Zweck nicht zulässig ist. Bei Putin heiligt der Zweck die Mittel, das ist im Grunde eine vormoderne Form der Politikführung.
Spätestens, wenn es um das Leben und die Existenz anderer Menschen geht, muss es doch so etwas wie einen natürlichen Instinkt geben, dass man bestimmte Dinge nicht tun darf.
Lenzen: Es muss eine moralische Wertvorstellung vorhanden sein, damit diese Gedanken, die Wladimir Putin gehabt hat und die schließlich zum Krieg geführt haben, gar nicht erst entstehen können.
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Man fragt sich, wie dieser Mensch abends einfach ins Bett gehen kann, nach all den Gräueltaten, die er in der Ukraine zu verantworten hat.
Lenzen: Das ist ein ähnlicher Realitätsverlust, wie wir ihn bei dem ehemaligen Bundeskanzler erlebt haben, dass er das gar nicht als belastend empfindet, sondern davon überzeugt ist, dass sein Weg der richtige ist. Wenn Sie Putin auf die Couch legen und einer Psychoanalyse unterziehen, wird er nicht sagen: Mir sind andere Menschen egal, ich will als Machtmensch und Imperator in die Geschichte eingehen. Sondern er wird der Auffassung sein, dass er das Beste für sein Land tut.