Hamburg. Sie werfen Stadt und Hochbahn neben immensem Energiebedarf zudem „gesetzwidrige Planung“ und Tricks bei den Zahlen vor.
Beim Hamburger Mega-Projekt U5 tut sich ein tiefer Graben auf zwischen Befürwortern und Gegnern. Die Bauarbeiten des HVV für den Abschnitt Ost der neuen U-Bahn-Linie von Bramfeld Richtung City Nord haben bereits begonnen. Im Abendblatt äußern sich erstmals drei Kritiker und Kläger öffentlich: Günter Betz (74), Ingenieur für Verfahrenstechnik, Stefan Knittel (80), Ingenieur für Maschinenbau, und Thomas Philipp (77) Volkswirt und Unternehmer.
Hamburger Abendblatt: Herr Betz, Sie haben mit Ihren Mitstreitern eine Umweltverträglichkeits-Untersuchung zur geplanten U-Bahnlinie U5 angefertigt. Warum haben Sie kein Vertrauen in die Behörden und Hochbahn-Planer?
Günter Betz: Wenn man in der Industrie gearbeitet und sich dort mit Umweltverträglichkeitsprüfungen beschäftigt hat, schaut man anders auf die U5 als ein Normalbürger. So wie hier die Planung der U5-Ost abgelaufen ist, würde das in der Industrie nie funktionieren. Wenn das Projekt in die Realisierungsphase geht, wenn es zu Kostenexplosionen kommt, wenn es zu einem umweltrelevanten Ausstoß von zusätzlichen Millionen Tonnen an CO2 kommt, würde man feststellen, dass die ganze Planung unvollständig ist. Bei der U5 ist der Auftraggeber der Senat, die Hochbahn Auftragsnehmer und die Wirtschaftsbehörde die Planfeststellungsbehörde. Alle befinden sich auf „einer Seite“. Da muss man sich nicht mehr wundern.
Was hat Ihre Untersuchung, das der U5-Betrachtung des Senates nach Ihrer Meinung fehlt?
Betz: Suchen Sie doch mal in den Unterlagen nach den CO2-Emissionen des Baus. Und nur im Betrieb die klimaschädlichen Belastungen mit anderen, verschiedenen Verkehrsmitteln zu vergleichen und die Belastungen aus dem Bau immer außen vor zu lassen, das ist weder korrekt noch entspricht es dem Gesetz. Die U5 erfordert gigantische, klimaschädliche Bauten in offener Bauweise mit neuen Bahnhöfen und sehr vielen Notausgängen auf einer 25 Kilometer langen Strecke – um dann einen mehr als zweifelhaften Nutzen für das Klima zu erlangen. Im Betrieb soll die U5 im 90-Sekunden-Takt führerlos fahren. Diese Frequenz und die Vollautomatisierung plus ihr elektronisches Equipment erfordert einen elfmal so hohen Energiebedarf gegenüber der jetzt in HH existierenden U-Bahn.
HVV Hamburg: Ist die neue U5 Gift für die Klimabilanz?
Woher nehmen Sie diese Zahlen?
Betz: Sie basieren auf den Unterlagen der Hochbahn. Wenn Sie das auf die Menschen umrechnen, die irgendwann einmal in den 2030-er Jahren vom Auto umsteigen, ist die Klimabilanz verheerend. Da fahren Sie besser weiter mit Ihrem alten VW Polo.
Hinter Ihrer Studie mag das hehre Ziel des Klimaschutzes und der Verweis auf das Bundesverfassungsgericht stehen, das von allen Länder- und der Bundesregierung mehr Maßnahmen für den Klimaschutz verlangt. Aber Ihre Untersuchung soll ja auch den Klägern helfen, die die U5 verhindern wollen?
Thomas Philipp: Natürlich hatten wir eine persönliche, direkte Betroffenheit. Ein Bauprojekt der U5 wird direkt vor unserer Haustür realisiert und über Jahre Lärm, Dreck und Erschütterungen mit sich bringen. Das hat uns aufgeschreckt. Wir haben dann Zehntausende von Seiten studiert und mit Herrn Betz zusammen herausgefunden, dass die U5 in der Planung offensichtlich nicht richtig durchdacht wurde. Und dann haben wir diesen Knüller entdeckt.
Planfeststellungsunterlagen sind nicht für Knüller bekannt, was meinen Sie?
Philipp: Zum Beispiel sind Beton und Stahl in der Produktion so klimaschädlich, dass der Senat seine nachhaltige Mobilität und seine Umweltziele mit der U5 in 1000 Jahren nicht erreichen kann. Die jährliche CO2-Einsparung durch ihren Betrieb ist ebenso zu vernachlässigen. Bis zum Jahr 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Wenn die U5-Ost frühestes im Jahr 2032 fährt, die gesamte U5 nicht vor 2040, wahrscheinlich noch später – wie soll sie nach dem gewaltigen Ausstoß von gasförmigen Emissionen beim Bau in kurzer Zeit den dringend erforderlichen Klimabeitrag leisten?
Wenn irgendwo Zement und Stahl hergestellt werden, fließt das nicht in die Hamburger Klimabilanz ein.
Philipp: Aber der Senat fragt diese Produkte nach und fällt damit eine Entscheidung für das Klima – in diesem Fall: dagegen.
Haben Sie damit Ihre Klagen begründet?
Philipp: Wer nur vom Lärm betroffen ist, darf auch nur dagegen klagen. Wer wie wir eine „enteignungsrechtlich vorwirkende Betroffenheit“ durch unmittelbare Nähe zu einer Riesenbaustelle der U5 hat, darf leider nicht gegen andere Umweltaspekte mit Bezug auf alle Schutzrechte klagen. Das ist ungerecht.
Warum hat kein Umweltverband geklagt?
Betz: Wir haben die Naturschutzverbände dazu bewegen wollen. Wir haben es schriftlich: Der BUND will die U5 nicht verhindern, sondern nur „kritisch begleiten“.
U5 in Hamburg: Das ist der Streckenverlauf
Der Klimabeirat der Umweltbehörde hat Ihre Anregungen aus der Untersuchung aufgegriffen und den hohen Energiebedarf und die daraus resultierenden Emissionen beim Bau der U5 bemängelt.
Philipp: Das reicht nicht. Bundes- und Landesregierungen sind per Gesetz verpflichtet, bei ihrem gesamten Handeln, nicht nur bei der Energieerzeugung, die Pariser Klimaschutzziele zu beachten. Im Dezember haben die SPD- und Grünen-Fraktionen der Bürgerschaft den Senat aufgefordert, bei zwei Alt-Projekten „studienhalber“ die CO2-Kosten durchzurechnen und darzustellen. Aber: Man hat dem Senat eine Frist bis Ende 2023 gesetzt. Die U5 ist dann außen vor.
Der Klimabeirat hat gesagt: Es gibt eine Regelungslücke. Da kann man dem Senat also keinen Vorwurf machen.
Betz: Die ganze Planung ist auf Lücken gebaut. Es sind zum Beispiel nur innerhalb des Systems U5 angeblich Alternativen betrachtet worden, also ob der Startschacht im Osten oder Westen ist, der Streckenverlauf so oder so. Die Alternative einer Stadtbahn wurde nie dargestellt oder gegengerechnet.
Bürgermeister Peter Tschentscher hat sie gerade als „altmodische Stahlungetüme“ bezeichnet. Ehrlicherweise hat eine Stadtbahn nicht die Kapazität einer U5.
Stefan Knittel: Das stimmt, aber mit den Milliarden für die U5 könnte man ein ganzes Stadtbahnnetz in Hamburg realisieren – für einen Bruchteil des CO2-Ausstoßes.
Wo sehen Sie noch Lücken?
Philipp: Im Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung steht, dass Treibhausgasemissionen zu beachten sind.
Betz: Es heißt dort sogar, es seien die mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen eines Vorhaben zu ermitteln, zu beschreiben und zu bewerten. Wenn in der U5-Planfeststellung nur steht, es seien mehrere Alternativen betrachtet worden, dann fehlt alles: welche das sind, ihre Beschreibung und Bewertung.
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Die Hochbahn ist auf die U5-Kläger zugegangen und hat zwei von neun überzeugt, ihre Klage zurückzunehmen. Gab es Zugeständnisse bei den Baustellen, oder ist Geld geflossen?
Knittel: Das weiß ich nicht. Auch wir hatten einen Ortstermin mit der Hochbahn. Dabei haben wir Alternativen zu den Baustellen aufgezeigt, die für alle Anwohner die Belastungen während der Bauzeit reduzieren würden, nicht nur für uns.
Was folgt für Sie daraus?
Knittel: Wir sind noch in den Verhandlungen. Was ich sagen kann: Die Hochbahn drängelt, sie möchte die Klagen vom Tisch haben.
Verständlich. Wir haben keine Zeit mehr, bis mehr Menschen vom Auto umsteigen auf weniger umweltschädliche Verkehrsmittel.
Knittel: Wenn ich im 90-Sekunden-Takt Menschen aus Bramfeld wegschaffe, dauert es einen halben Tag, und dann ist Bramfeld entvölkert.
Philipp: Die U5 ist völlig überdimensioniert. Die bisherige Kostenschätzung ist nicht mehr als seriös zu beziffern, weil die Energiepreise und die für Baustoffe davongaloppieren. Verkehrssenator (Anjes) Tjarks verkündet ein Sammelsurium von Zahlen und sagt, dass jeden Tag 290.000 Pkw-Kilometer eingespart werden und jedes Jahr 6,1 Millionen Stunden an Fahrzeit. Das wären am Tag etwa 16.000, also 960.000 Minuten. Auf 270.000 U5-Fahrer pro Tag runtergerechnet wäre das eine durchschnittliche Zeitersparnis von dreieinhalb Minuten pro Fahrgast. Lohnt das den Aufwand?
Der Klimabeirat hat im Zusammenhang mit dem Wohnungsbau die Bevölkerungsprognosen für Hamburg abgewogen. Welche Folgen hat aus Ihrer Sicht diese Entwicklung für die U5?
Philipp: Die Hochbahn hat in der Pandemie viele Fahrgäste verloren. Die immer noch bestehende Angst vor Corona und der Trend zum Homeoffice arbeiten weiter gegen sie. Viele Unternehmen richten sich schon darauf ein und mieten Büroflächen ab. Die U5 wird in jedem Fall große Überkapazitäten schaffen.