Hamburg. Hamburger Jurastudent misshandelte zwei Dutzend junge Frauen auf widerlichste Art. Jetzt gab es einen zweiten Prozess in dem Fall.

Die Anwälte Ralf Peisl und Esther Merkl gehen voraus, ihre Mandantin folgt ihnen, nimmt an einem Tisch vor dem Richter Platz. Birgit Danner (Name geändert) wirkt heute abgeklärt, aber innendrin sieht es anders aus. Seit vier Jahren verfolgt sie das, was Jürgen Meyer (Name geändert) ihr angetan hat – ihr und 18 weiteren Frauen. Jeweils 500 Euro Schmerzensgeld hat der Hamburger seinen Opfern bereits zahlen müssen, weil er sie quälte, erniedrigte, an der Gesundheit schädigte. Danner hat ihn – als bisher einzige Geschädigte – vor einer Zivilkammer des Hamburger Landgerichts auf weitere 6000 Euro verklagt.

Als der junge Mann Sekunden später mit seinem Anwalt den Saal A 265 betritt, schaut sie an ihm vorbei; sie will ihn nicht ansehen, ganz wegsehen will sie aber auch nicht. Ziel dieser Güteverhandlung ist ein Vergleich, um beiden Parteien weitere Kosten und Mühen zu ersparen.

Angeklagter mischte zwei Dutzend Frauen Abführmittel ins Essen

Als der erste Vorschlag von Meyer schließlich auf dem Tisch liegt – unter 1000 Euro Schmerzensgeld – strafft sich ihr Körper, Birgit Danner schüttelt den Kopf. „Was für eine unfassbare Frechheit“, sagt sie später. Im Zusammenhang mit diesem Fall ist wohl kein anderes Wort häufiger gefallen als „unfassbar“.

Denn Jürgen Meyer hat zwei Dutzend Frauen Unbeschreibliches angetan. Klammheimlich mischte der Jurastudent fremden Frauen, die in seiner Wohnung zu Gast waren, eine Substanz ins Essen oder ins Getränk, die massiven Harndrang, Durchfall und/oder Übelkeit auslöste. Pressierte es sie in der Wohnung, funktionierte die Toilette (angeblich) nicht. Dann bot er ihnen an, sie könnten sich in seiner Dusche oder draußen im Gebüsch erleichtern, er könne sie begleiten. Bei Spaziergängen, so berichteten die Opfer, sei er betont langsam gelaufen, wenn sie – wegen Stuhl- und Harndrangs zunehmend verzweifelt – nach einer Toilette fragten. Oder flehten.

Couchsurferinnen fielen auf hervorragend bewertetes Profil herein

Die Betroffenen aus aller Welt waren über die Internet-Plattform Couchsurfing.com an Meyer geraten. Das Prinzip: Wer Couchsurfer in seiner Wohnung kostenfrei übernachten lässt, darf das im Gegenzug bei seinem Gast auch. Dort zu sehen war auch Meyers hervorragend bewertetes Profil, das ihn als „nett“, „klug“ und „höflich“ auswies. Als jemand, der für einen neuen Gast schon mal ein Liedchen auf dem E-Piano anstimmte. Kleiner Makel: Mehrere Frauen gaben an, sie seien während des Aufenthaltes krank geworden. Dass sie krank wurden, weil Meyer es so wollte, kam erst im Lichte der Ermittlungen zutage.

Die meisten Frauen schoben ihre Beschwerden auf einen Infekt, die Reise, den Stress. Ihren Gastgeber fand Birgit Danner, als sie sich im Juni 2018 für zwei Nächte bei ihm einquartierte, wie alle anderen auch ziemlich sympathisch, „Typ Schwiegermuttis Liebling“. Heute ärgert es die 34-Jährige, dass ihre eigentlich gute Menschenkenntnis sie im Stich gelassen hat.

Heftiger Harndrang nach Bananen-Shake

Im Juni 2018 gibt er ihr einen „ekligen Bananen-Shake“ und ein bereits geöffnetes Bier in die Hand. Dann gehen sie spazieren. Birgit Danner spürt schon an der Wohnungstür einen heftigen Harndrang. Meyer beruhigt: Gleich kommen Cafés – nur sind da keine. Im letzten Moment findet sie ein Dixi-Klo auf einer Baustelle. Als sie es verlässt, sieht sie ihren Gastgeber vor der Tür mit dem Handy herumhantieren. „Am nächsten Tag, nach einem Seminar, empfing er mich mit Schnaps“, sagt sie.

Da wird ihr komplett schwindelig, es fühlt sich „an wie Watte“ im Kopf. Überhaupt ist die Nürnbergerin an den Tagen in Hamburg chronisch müde. Dass Meyer sie mit Abführmitteln oder harntreibenden Mitteln vergiftet hat, daran denkt sie aber keine Sekunde, auf Couchsurfing.com gibt sie ihm eine gute Bewertung.

Den Stein ins Rollen bringt eine andere Couchsurferin, die Danner anschreibt und wissen will, ob auch sie krank geworden sei. „Ich las ihre Nachricht, es fiel mir wie Schuppen von den Augen“, sagt sie. Weitere Frauen, die bei Meyer übernachtet haben, klagen über ähnliche Beschwerden: Bauchkrämpfe, Harndrang, Durchfall, Übelkeit. Binnen weniger Stunden melden sich 24 Frauen aus Deutschland, Argentinien, Belgien, Frankreich, Polen, Spanien, Dänemark, Kasachstan, Belarus und Russland. 19 erstatten Anzeige.

Angeklagter erhält Bewährungsstrafe

Vor gut zwei Jahren hat das Amtsgericht St. Georg Meyer wegen gefährlicher Körperverletzung in 19 Fällen zu einer (rechtskräftigen) Bewährungsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, per Strafbefehl, also ohne öffentliche Verhandlung. „In Bayern wäre das undenkbar gewesen“, sagt der Nürnberger Strafverteidiger Ralf Peisl, der das Urteil für zu milde hält.

Zudem blieben viele Fragen offen: Was für Substanzen wurden den Opfern untergejubelt? Welches Motiv hatte Meyer? Erregte ihn die Not seiner Opfer sexuell? Filmte er sie unbemerkt? Die Fetisch-Szene hat für solch abseitigen Gelüste, dieses Sich-weiden am Leiden, einen Namen: „Female Desperation“ (weibliche Verzweiflung). War es das?

Man wird es wohl nie erfahren, zumal die Frist für ein zivilrechtliches Klageverfahren bei den meisten Opfern wegen Verjährung Ende 2021 abgelaufen sein dürfte. Birgit Danner hingegen klagte noch rechtzeitig. Bereits im Strafbefehl war Meyer auferlegt worden, jedem Opfer 500 Euro Schmerzensgeld zu zahlen – das reichte der 34-Jährigen bei Weitem nicht. Noch immer leide sie unter den Folgen der Tat, sagt sie dem Abendblatt. Nach dem Sport fährt sie ungeduscht nach Hause, weil sie es nicht erträgt, sich vor anderen zu entblößen.

Wegen der Folgen ist das Opfer in psychologischer Behandlung

Außerdem hat sie eine Art sechsten Sinn für Überwachungskameras entwickelt: So klein und unscheinbar sie sind, Danner entdeckt sie. Auch diese Sensitivität gehört zu ihrer posttraumatischen Belastungsstörung. Wegen der Folgen der Tat ist sie weiterhin in psychologischer Behandlung.

Jürgen Meyers Anwalt sagt im Gericht: Sein Mandant wünsche sich einen Schlussstrich, aber keinen erneuten Presserummel wie nach dem ersten Bericht im Abendblatt vor drei Jahren. Man sei bereit, sich zu vergleichen, aber akzeptiere die Klägerin eine Verschwiegenheitsklausel?

Da spielen Danner und ihre Anwälte nicht mit. Nach einer kurzen Pause lenkt Meyer ein: Unter „erheblichen Bedenken“ werde er 4000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Damit solle die Sache dann aber auch vom Tisch sein. Juristisch ist sie das gewiss, finanziell absehbar auch. Emotional aber ganz sicher nicht. Zumindest nicht für Birgit Danner.