Bistritzky ist seit 2012 Landesrabbiner, gehört der orthodoxen Bewegung Chabad Lubawitsch an – und wirbt für mehr Toleranz.

Wer Spuren jüdischen Lebens in Hamburg sucht, der findet diese in zweierlei Form: als Orte des Gedenkens, wie es zum Beispiel die gravierten Stolpersteine für die Opfer der Nazi-Diktatur sind, oder der Grundriss der einst größten Synagoge der Stadt. Daneben jedoch ist längst wieder Neues gewachsen, etwa das Café Leonar unweit des Joseph-Carlebach-Platzes (früher: Bornplatz) mitten im Grindelviertel, wo bis 1938 die meisten Juden Hamburgs zu Hause waren. Auf der anderen Straßenseite, dem Café fast gegenüber, steht die alte Talmud-Tora-Schule, inzwischen wieder Lehranstalt und Zentrum der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Deren Landesrabbiner ist seit 2012 Shlomo Bistritzky.

Wer Bistritzky trifft, der muss nicht lange rätseln, welchem Glauben sein Gegenüber anhängt: Langer Bart, Kippa, schwarze Hose, schwarze Schuhe, weißes Hemd, an der Hüfte die Zizit, ein Bündel fünffach geknoteter weißer Fäden, befestigt an einem Leibchen – das ist die Tracht der orthodoxen Juden. Bescheiden ist Bistritzkys Büro, ausgesprochen klein, karg eingerichtet, sehr funktional. Hier wollen wir mit dem Landesrabbiner darüber sprechen, wie man sich fühlt in einem Deutschland, das nicht nur eine fürchterliche Historie hat, sondern auch eine brisante, gefährliche Gegenwart.

Rechtsextremismus – die größte Bedrohung

Antisemitismus scheint in bestimmten Kreisen wieder en vogue, forciert durch außerparlamentarische rechts­extremistische Splittergruppen, die sich mithilfe von Social Media weiter vernetzen und gefördert werden durch parlamentarische Vertretungen wie die AfD. Nicht ohne Grund nennt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) den Rechtsextremismus zurzeit „die größte Bedrohung für unser Land“. Lange genug wurde – auch von ihm – diese Gefahr mit allzu großer Selbstgewissheit geleugnet.

Da waren Senat und Bürgerschaft im Hamburg doch weiter. Beide stellten und stellen sich „entschieden und gemeinsam gegen jede Form von Antisemitismus. Jüdinnen und Juden sollen ihre Religion in Hamburg frei leben können und keine Angst vor Übergriffen, Beleidigungen und Diskriminierungen haben müssen“. So steht es auch in einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft.

Antisemitische Straftaten gibt es auch in Hamburg

Findet also in Hamburg der Antisemitismus gar keinen fruchtbaren Boden? Leider doch. Vor etwas mehr als einem Jahr wurde Shlomo Bistritzky, zusammen mit einem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde, Opfer einer antisemitischen Schimpf- und Spuckattacke, am helllichten Tage, auf offener Straße, abstoßend und hinterhältig.

Bürgermeister Peter Tschentscher sprach von einer „schlimmen antisemitischen Straftat“, verübt wurde sie von einem aggressiven Marokkaner aus Niedersachsen. Solche Attacken gibt es in Deutschland immer wieder – nicht selten sind Muslime die Täter, aber oft auch Rechtsradikale, denen man die Gesinnung nicht immer sofort ansieht. Ein Mittel gegen dumpfen, ungebildeten und vorurteilsbelasteten Antisemitismus kann die Information über jüdisches Leben sein, in all seiner Vielfalt.

Jüdisches Bildungszentrum in Hamburg wird mit Spenden restauriert

Wie in der christlichen Religion kennt auch das Judentum verschiedene Philosophien – eine ist jene der global agierenden Bewegung Chabad Lubawitsch. Schon seit dem Jahr 2003 lebt Rabbiner Shlomo Bistritzky mit seiner Familie in Hamburg und steht seit damals dem hiesigen Chabad-Lubawitsch-Bildungszentrum vor, das an der Rothenbaumchaussee beheimatet ist.

„Seit einigen Jahren sind wir mithilfe von Spendern dabei, dieses 1877 von einem jüdischen Arzt erbaute Haus nach den strengen Regeln des Denkmalschutzes zu restaurieren“, erklärt Rabbiner Bistritzky. Bislang kostete die Sanierung mehr als 1,3 Millionen Euro, „und vermutlich werden wir eine ebenso hohe Summe nochmals für deren Vollendung brauchen“. Dabei setzen sich diese Mittel zusammen aus Spenden, Bundesmitteln sowie aus Zuschüssen zum Denkmalschutz.

Bistritzky kam vor 17 Jahren aus Israel nach Hamburg

Schon heute kann man bei einem Besuch in der Rothenbaumchaussee 19 sehen, wie aufwendig, fachgerecht und liebevoll der Keller und das Parterre für die Chabad-Lubawitsch-Gemeinde restauriert werden. Das betrifft auch die Außenfassade sowie die Einrichtung eines koscheren Restaurants zum Hof hin, „aber das ist noch ein wenig Zukunftsmusik,“ sagt Bistritzky.

Bistritzky und seine Frau kamen vor 17 Jahren aus Israel. Sie haben, für orthodoxe Juden nicht ungewöhnlich, viele Kinder, neun sind es inzwischen. Ihr Umzug nach Hamburg erfolgte auf Geheiß der Chabad-Lubawitsch-Bewegung in Crown Heights im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Dort wird beschlossen, welcher Rabbiner wohin geht auf der Welt. „Mittlerweile gibt es über 4500 Chabad-Zentren, wir sind auch in entlegensten Ortschaften vertreten“, erklärt Bistritzky.

Bistritzky erteilt auch Koscher-Zertifikate

Wer sich entschließt Rabbiner zu werden, der wählt für sich für einen jahrelangen Ausbildungsweg, der viel Geduld erfordert – und eine große Portion Demut. Shlomo Bistritzky, geboren in Jerusalem, lebte zunächst in Safed im Norden Israels. Sein Vater war dort Oberrabbiner. Der Sohn besuchte die Jeschiwa, eine jüdische Hochschule mit den besonderen Schwerpunkten der Studien zur Tora und zum Talmud. Anschließend vertiefte er seine Studien in Manchester und New York, um dann in Berlin jüdisches Gesetz zu studieren. Dort wurde er 1999 als Rabbiner ordiniert, um 2003 vom Oberrabbiner Israels legitimiert zu werden, in der Diaspora wirken zu können. Zudem ist der Rabbi noch Kaschrut-Experte­: „Ich prüfe Produkte von Firmen aus und um Hamburg und erteile Koscher-Zertifikate“, erklärt Bistritzky.

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Das Judentum an Alster und Elbe geht auf das 16. Jahrhundert zurück. Damals kamen die ersten Juden aus Portugal in das seinerzeit noch dänische Altona. Dort war es ihnen gestattet, ihre Toten auf eigenem Boden zu begraben – in Hamburg war dies nicht erlaubt. Bevor die Nazis die Macht in Deutschland ergriffen, lebten auf Hamburger Gebiet gut 20.000 Menschen jüdischen Glaubens.

Heute leben wieder rund 5000 Juden in Hamburg

Die Schoah, die industriell geplante und systematisch durchgeführte Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden, hat auch hier viele Opfer gefordert. Inzwischen leben heute wieder bis zu 5000 Menschen jüdischen Glaubens in Hamburg, für etwa 3500 von ihnen ist Bistritzky religiöses Oberhaupt (die anderen organisieren sich nicht oder in der Liberalen Jüdischen Gemeinde). Der Rabbiner ist froh, „dass auch in dieser Zeit immer noch und immer wieder ein sehr welt- und religionsoffener Geist durch die ganze Hamburger Gesellschaft weht“.

In unserer Stadt gebe es weitaus weniger antisemitischen Hass als anderswo, gleichwohl wisse auch er, wie schnell aus versteckten Ressentiments eine menschenverachtende Feindlichkeit werden könne. Ganz in der Nähe der Rothenbaumchaussee 19, am heutigen Joseph-Carlebach-Platz stand seit 1906 die größte Synagoge Hamburgs. In der berüchtigten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde diese Synagoge vom Nazi-Mob angezündet und verwüstet, 1939 dann abgerissen. Gegenwärtig wird in einer vom Senat in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie geprüft, ob die Synagoge als sichtbares Zeichen jüdischen Lebens in Hamburg wieder aufgebaut werden kann.

Bistritzkys Familie floh vor den Nazis aus Hamburg

Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Pogromnacht wurden in Hamburg über 8000 Juden deportiert und umgebracht. „Die Bistritzkys mussten vor den Nazis zunächst nach Rotterdam und schließlich nach New York fliehen“, sagt der Rabbiner. „Mein Großvater ist in Hamburg geboren und besuchte die Talmud-Tora-Schule im Grindelviertel.“ Heute unterrichtet dort Chani, die Frau des Rabbiners, als Lehrerin Hebräisch und Religion. Zudem ist sie eine der Direktorinnen der Hebrew School am Chabad-Zentrum. So schließt sich im 21. Jahrhundert der Kreis einer Familie, die Hamburger Wurzeln hat, Deutschland verlassen musste oder in Auschwitz vergast wurde, in New York und anderswo wieder Fuß fasste, um dann teilweise in die alte Heimat zurückzukehren.

Chabad ist ein Akronym aus dem Hebräischen, es umfasst drei intellektuelle Fähigkeiten: Weisheit, Verstehen und Wissen. Der Mensch soll sein Leben durch diese drei besonders wichtigen Begrifflichkeiten alltäglich lenken lassen. Lubawitsch wiederum ist der Name eines Ortes nahe Smolensk in Westrussland: Dort hatte diese religiöse Bewegung im 18. Jahrhundert über 100 Jahre lang ihren Hauptsitz.

Bei aller Orthodoxie in der Ausübung des Glaubens stehe Chabad Lubawitsch für „gegenseitigen Re­spekt, Toleranz und Verständnis“ auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, sagt Bistritzky. Und zum gesellschaftlichen Dialog gehöre es eben auch, sich in der Ausübung der Religion nicht durch Vorfälle wie den von 2019 entmutigen zu lassen,. „Mittlerweile“, so der Landesrabbiner, „würden meine Frau und ich sagen: Hamburg ist unsere Heimat.“