Harburg. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen keine Chance haben – sagt der emeritierte Michel Hauptpastor.
Als ich 15 Jahre alt war, habe ich das „Tagebuch der Anne Frank“ verschlungen. Unvorstellbar für mich, wie ein 14-jähriges jüdisches Mädchen so kreativ, berührend und reif schreiben konnte. Vor 75 Jahren starb Anne im KZ Bergen-Belsen. Geboren wurde sie 1929 in Frankfurt. 1934, als die Verfolgung der Juden immer stärker wurde, wanderte die Familie in das noch sichere Holland aus. Als die Nazis dann Holland einnahmen, machte die Gestapo auch hier Jagd auf die Juden.
Ab 1942 versteckte sich die Familie im Hinterhaus des Geschäftshauses von Annes Vater. Anne begann, in ihr Tagebuch zu schreiben, was sie empfand und erhoffte. Hier eine Passage: „Fast jeden Morgen gehe ich auf den Dachboden hinauf, um die stickige Luft aus meinen Lungen zu pusten… Von meinem Lieblingsplatz auf dem Dachboden sehe ich hinauf in den blauen Himmel und in den kahlen Kastanienbaum, an dessen Zweigen kleine Tropfen wie Silber glitzern. Solange wie dies existiert, so dachte ich, werde ich leben mögen, um dies zu sehen, diesen Sonnenschein, diesen wolkenlosen Himmel.“
Ein Kastanienbaum als einzige Verbindung zur Natur
Dieser Kastanienbaum war ihre einzige Verbindung zur Natur. Zwei Jahre lebte Anne mit ihrer Familie unentdeckt in ihrem geheimen Versteck. Freunde brachten Essen und die neuesten Nachrichten über die Kriegsereignisse. Täglich füllte Anne Seite um Seite in ihrem Tagebuch. Mit den Eltern teilte sie die Hoffnung, dass die Angst und das Grauen bald ein Ende haben werden. Es kam anders. Im August 1944 erschienen Männer der Geheimpolizei im Hinterhaus. Jemand hatte das Versteck verraten. Die Familie wurde verhört, verhaftet und in ein Durchgangslager verbracht. Später wurde Anne mit ihrer Schwester nach Bergen-Belsen gebracht. Dort starb sie entkräftet am Fleckfieber.
Eines der meistgelesenen Bücher überhaupt
Anne Franks Leben in ihrem Tagebuch ging bald nach Kriegsende um die Welt. Es zählt zu den meistgelesenen Büchern überhaupt. Sie selbst wurde so zur Symbolfigur gegen Unmenschlichkeit und Diktatur. Über ihr Leben und Schicksal wurden viele Filme gedreht, einer erhielt sogar den Oscar für Dokumentation. Ich habe verschiedene Theateraufführungen erlebt, zuletzt eine im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. Eine bedrängende Inszenierung. Und ein Fanal des geistigen und politischen Widerstands gegen den heute wieder stärker werdenden Antisemitismus. Schulen tragen ihren Namen, Komponisten schufen Werke über Anne, die Ikone des Widerstands.
Zurück zur Kastanie, die ihr in ihrem Amsterdamer Versteck Trost spendete. Dieser Baum hat auch Geschichte geschrieben. Überall auf der Welt wachsen Ableger der Kastanie: So auch vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York. 2008 wurde auch vor der Frankfurter Anne-Frank-Schule ein Baum gepflanzt. Als der 5 Jahre alt war, haben Unbekannte das zwei Meter hohe Bäumchen abgesägt und mitgenommen. Von den Tätern fehlt jede Spur. Für die Schüler/innen war das ein Schock. „Wer macht denn so etwas?“ Aber diese Tat löste viele Gespräche in der Schule aus. Die Lehrerin berichtet darüber: Mögliche Täter wurden im rechtsextremen Lager vermutet. Nachbarn wurden genannt, die Angst hatten, dass der Baum ihnen die Sicht nehmen würde.
Das Überleben der Kastanie von Frankfurt
Für die Schüler war der Baum mehr als nur eine Erinnerung an die Namensgeberin der Schule. Die Lehrerin erzählt, dass Anne für sie eine starke Symbolkraft gehabt habe. Der Baum sei ein Symbol für Freiheit, für die gelebte Freiheit der Gedanken und Überzeugungen. In der Anne-Frank-Schule haben gut 80 Prozent der Realschüler ein Elternteil, das nicht in Deutschland geboren ist. Sie können sich mit einer deutschen Ikone des Widerstands, die weltweit bekannt ist, auseinandersetzen. Und dabei ihre Fragen nach der eigenen Identität aufnehmen und zu klären versuchen.
Und dann haben sie noch ein Wunder erlebt, das Wunder der Kastanie von Frankfurt: Der Stumpf des abgesägten und gestohlenen Baumes hat überlebt. Er hat wieder ausgetrieben. Heute hat er schon zwei kleine Stämme. Um ihn vor Angriffen zu schützen, hat man ein Gitter um ihn aufgestellt. Für die Schüler war es wichtig, dass die Täter das Symbol des Gedenkens an Anne nicht aus der Welt schaffen konnten.