Hamburg. Vor 75 Jahren öffneten Hamburgs Schulen wieder. Die oft traumatisierten Kinder lernten nach dem Krieg unter harten Bedingungen.
Nach der mörderischen Pogromnacht vom 9. November 1938 erscheint ein Lehrer der Harvestehuder Jahnschule in verschmutzter NSDAP-Uniform zum Dienst. Er habe die Synagoge in der Straße Rutschbahn angezündet, prahlt er, und mit Parteigenossen „die Juden rudelweise aus den Häusern rausgeprügelt“.
Nach dem Krieg schlägt derselbe Lehrer auf dem Rücken einer Viertklässlerin einen Stock entzwei. Als ihn der Vater des Mädchens zur Rede stellt, verteidigt sich der Mann, er sei „nun mal ein lebhafter Mensch“. Kaum zu fassen: Der braune Prügel-Pädagoge kassiert nur einen Verweis, wird für kurze Zeit versetzt und darf dann bis zur Pensionierung ungestört weitermachen.
Als vor 75 Jahren, am 6. August 1945, in Hamburgs Schulen wieder der Unterricht beginnt, werden nur zwölf Prozent der 6000 Lehrer aussortiert. Dabei waren 80 Prozent von ihnen in der NSDAP. Doch das ist nicht das einzige Problem: Von den 463 Schulgebäuden der Stadt sind 21 Prozent total zerstört und 26 Prozent so schwer beschädigt, dass sie kaum noch zu gebrauchen sind.
Schulunterricht mit bis zu 56 Kindern in einer Klasse
Die Not wird noch verschärft, weil viele Schulgebäude als Lazarette oder Notunterkünfte für Flüchtlinge und Besatzungssoldaten dienen. Zugleich steigt die Zahl der Schulkinder rasant an: Im November 1945 sind es 95.000, im April 1947 schon 186.000. „Raum- und Lehrermangel waren nur durch die Einführung des sogenannten Schichtunterrichts zu kompensieren“, schildert der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Reiner Lehberger. „Es wurde vor- und nachmittags unterrichtet, an manchen Schulen sogar in drei oder vier Schichten.“ Und: „Bedingt durch die schwierige Wohn- und Ernährungslage“, so der Forscher, „war der Gesundheitszustand von Lehrer- wie Schülerschaft gleichermaßen schlecht.“
Ein Bericht des Senats stellt bei Hamburgs Schulkindern acht Kilo Untergewicht fest. Lehberger: „Hätte es nicht die englische, schwedische und amerikanische Schulspeisung gegeben, wäre die Situation noch erheblich dramatischer gewesen.“
Im September 1945 unterrichtet jeder Lehrer 48 Kinder
Im September 1945 unterrichtet jeder Lehrer 48 Kinder. 80 Prozent der Pädagogen sind über 40 Jahre alt, viele stehen kurz vor der Pensionierung, andere sind noch in Gefangenschaft, und Nachwuchs gibt es kaum. „Wir hatten vier Stunden Unterricht“, schildert die damals 14 Jahre alte Wilma Blum ein halbes Jahrhundert später. „Fast zwei Stunden verloren wir durch das Geldeinsammeln für das Essen. Danach war eine Stunde Englisch, eine Stunde Rechnen und etwas Schreiben. In den Pausen guckten wir aus dem Fenster, dort sahen wir unsere geschlagene Armee in langen Zügen vorüberfahren. Wir winkten zaghaft. Wenn wir sie sahen, waren wir sehr bedrückt.“
Hamburg 1945
- 15. Mai: Die Briten ernennen Rudolf H. Petersen zum Bürgermeister.
- 22. September: Das britische „Radio Hamburg“ wird in NWDR unbenannt.
- 20. Oktober: Die Hamburger bekommen wieder an jedem zweiten oder dritten Tag Stadtgas.
- 4. November: 15.000 Hamburger kommen zu einer Gedenkfeier für die Opfer der KZ zum Ohlsdorfer Friedhof.
- 6. November: An der Universität beginnen wieder Vorlesungen.
- 9. Dezember: Die britische Militärregierung hebt das Tanzverbot auf.
Aber, so Blum: „Wir waren selbstständig, nicht wehleidig, hatten nur das Überleben im Kopf und waren sehr selbstsicher. Wir verstanden uns gut. Unsere Lehrerin kannte keine von uns. Sie versuchte uns in der kurzen Zeit wenigstens etwas beizubringen. Wir hatten das Wissen von Zwölfjährigen.“
Erziehungspolitik der britischen Besatzungsmacht
„Wir waren 56 Kinder in unserer Klasse“, schreibt ein anderer Zeitzeuge. „Im Winter waren die Schulen nicht geheizt, dann saßen wir im Mantel, Mütze und mit Handschuhen in der Klasse. Wenn es ganz schlimm wurde mit der Kälte, holten wir uns nur Hausaufgaben ab.“ Wie am Personal mangelt es auch am Material: „Wer ausgebombt war, hatte noch nicht mal einen Ranzen oder eine Brottasche“, erzählt der einstige Schüler der Heimatchronistin Ingrid von Husen.
„Um die Stifte bis fast zum Ende aufbrauchen zu können, steckte man sie auf Verlängerungshüllen. Mit den Heften war es ähnlich. Als Kladde dienten mir, wie den meisten Kindern, lose Zettel, die meine Oma für mich sammelte. Papier war zu der Zeit Mangelware, man musste sogar zum Kaufmann Tüten und Einwickelpapier mitbringen.“
Die Erziehungspolitik der britischen Besatzungsmacht zielt auf die dringend nötige „re-education“ („Umerziehung“) der von der NS-Propaganda verwirrten, verführten und radikalisierten Bevölkerung. Sie wird von zwei Anforderungen bestimmt: erst Entnazifizierung und Entmilitarisierung, dann Demokratisierung und Schaffung von Rahmenbedingungen für Reformen, die dann aber von den Deutschen selbst initiiert und realisiert werden müssen.
„Desillusionierte und apathische Bevölkerung“
Das ist nicht leicht in einer, so Lehberger, „desillusionierten und apathischen Bevölkerung“ und einem „materiell und von der geistigen Substanz her darniederliegenden Schul- und Erziehungswesen“. Die Entnazifizierung durch Fragebogenaktionen und Prüfungsausschüsse geht schon 1946 mehr und mehr in deutsche Verantwortung über.
Prompt werden viele Suspendierungen wieder aufgehoben. Und die Davongekommenen mischen gleich wieder munter mit, viele nun sogar in gehobener Stellung. „Die Lehrer bescheinigten sich gegenseitig – trotz Parteimitgliedschaft –, korrekt gehandelt zu haben“, berichtet die Historikerin Kirsten Heinsohn. „Eine Hand wäscht die andere!“
Täter knüpfen fast nahtlos an ihre Berufskarriere an
Nach einer Studie des ehemaligen Lehrers Hans-Peter de Lorent (war Mitglied der DKP und saß für die GAL in der Bürgerschaft), der 180 Lebensläufe untersuchte, können „alle Täter fast nahtlos wieder an ihre Karriere anknüpfen.“ Der Lehrer, der in der Pogromnacht auf Juden einschlug, heißt Rudolf Fehling. Im Entnazifizierungsverfahren behauptet er, „kein Aktivist, kein Militarist und immer Demokrat“ gewesen zu sein. Besonders in der Judenfrage habe er „innere Vorbehalte“ gehabt. Zweimal weist die Schulbehörde seine Anträge auf Wiedereinstellung zurück, doch im April 1950 darf er plötzlich wieder unterrichten.
In einem Vermerk urteilt der damalige Schulsenator Heinrich Landahl (SPD) milde: „Die Einstellung wurde zunächst abgelehnt, weil er sich als Nationalsozialist gebärdet hatte. Eine erneute Überprüfung hat aber ergeben, dass er im Grunde ein harmloser Wichtigtuer gewesen ist“. 1953 wird Fehling verbeamtet. Auch die Prügel-Attacke auf die Zehnjährige schadet ihm kaum, denn der Schulleiter nimmt ihn in Schutz: Bei Fehling verberge sich „unter einer rauen Schale ein guter Kern“. Das sahen viele NS-Opfer natürlich völlig anders, doch verhindern ließ sich der Aufstieg dadurch nicht.