Hamburg. Nichts erinnert in Hamburg an den hoch angesehenen Finanzexperten. Das könnte sich jedoch bald ändern.

In Hamburg sind viele Straßen nach früheren Grundbesitzern von anno dazumal benannt, und etliche Wegenamen gehen auf Ortsbezeichnungen (gerne auch mal auf Platt) aus grauer Vorzeit zurück. An einen wirklich bedeutenden Hamburger erinnert hier dagegen überhaupt nichts: Die Rede ist von Carl Melchior (1871 bis 1933). Melchior gilt als einer der angesehensten deutschen Finanzexperten des 20. Jahrhunderts. In äußerst schwierigen Zeiten bewies er Geschick, Nervenstärke und auch Sensibilität. 1932 wirkte er zudem als Mitbegründer und Geschäftsführer des Zen­tralausschusses der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau. Dieser Zusammenschluss aller jüdischen Wohlfahrts- und Auswanderungsorganisationen spielte bei der Rettung der in der NS-Zeit zunehmend bedrängten Juden eine sehr wichtige Rolle.

Jetzt macht sich der frühere Hamburger Finanzsenator Wolfgang Peiner (CDU) dafür stark, eine Straße nach Melchior zu benennen. Peiner appelliert an Hamburgs Bezirkspolitiker, namentlich in Melchiors einstigem Wohnbezirk Eimsbüttel, möglichst bald eine entsprechende Initiative auf den Weg zu bringen. „Eine solche Ehrung ist längst überfällig“, sagt Peiner, „es ist verwunderlich und nicht nachvollziehbar, dass sie bislang fehlt.“

Melchior stammte aus einer angesehenen jüdischen Gelehrten- und Kaufmannsfamilie

Laut Peiner war Melchior „der bedeutendste Finanzpolitiker, den Hamburg jemals hervorgebracht hat und ungeheuer wichtig für Deutschland“. Der Bankier Max Warburg, dessen Haus eine besonders enge Beziehung zu Melchior hatte, unterstützt den Vorstoß. „Carl Melchior war einer der klügsten Bankiers und Volkswirte der Kaiserzeit und der Weimarer Republik“, so Warburg. „Melchior starb 1933 und musste den Irrsinn der Rassenverfolgung und den Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs – anders als sein Freund, der berühmte Ökonom John Maynard Keynes – nicht mehr miterleben. Keynes hat sich bis ins hohe Alter an seinen klugen Freund von der Hamburger Warburg Bank erinnert. Wir finden die Initiative für die Straßenbenennung hervorragend und schließen uns ihr gerne an.“

Wolfgang Peiner war Finanzsenator in Hamburg.
Wolfgang Peiner war Finanzsenator in Hamburg. © picture alliance

Melchior stammte aus einer angesehenen jüdischen Gelehrten- und Kaufmannsfamilie, sein Vater Moritz war zeitweise Mitglied der Bürgerschaft. Er machte Abitur auf dem Johanneum und studierte Jura. Nach dem Zweiten Staatsexamen war er für kurze Zeit Richter, um dann als Rechtsanwalt zu arbeiten. 1902 berief ihn Max Warburg zum Syndikus des Bankhauses M. M. Warburg, wo sich Melchior schnell zum Generalbevollmächtigten und schließlich (von 1917 an) zum Teilhaber hocharbeitete.

Sachverständiger in der Waffenstillstandskommission

Die Politik rief den hoch angesehenen Fachmann – und Melchior half. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war der Hamburger Bankier zunächst Sachverständiger in der Waffenstillstandskommission und dann einer der sechs deutschen Hauptvertreter der Friedensdelegation in Versailles. In den folgenden Jahren nahm Melchior bis 1932 an allen wichtigen Konferenzen teil – unermüdlich und erfolgreich.

„Mit großem Sachverstand und glänzendem Verhandlungsgeschick gelang es ihm, im Laufe von zehn Jahren die hochpolitische Reparationsfrage zu versach­lichen und in mühevoller Kleinarbeit die Zahlungen des Reiches an die Siegermächte auf ein erfüllbares Maß zu reduzieren“, so der Historiker Prof. Gerhard Ahrens. Mehr noch: Dank seiner abwägenden, zurückhaltenden Art, exzellenter fachlicher Vorbereitung und der Gabe, sich in die Lage von Verhandlungspartnern hineinzuversetzen, erwarb sich Melchior Schritt für Schritt Vertrauen bei den Gegnern von einst.

1930 wurde er mit der Bürgermeister-Stolten-Medaille geehrt

Schließlich erkämpfte er nicht nur erhebliche finanz- und wirtschaftspolitische Erfolge für sein Heimatland, sondern er schaffte es, das im Krieg verspielte Vertrauen in Teilen zurückzugewinnen und neue Freundschaften und Verbindungen zu knüpfen. Zweimal bot ihm die Reichsregierung den Posten des Finanzministers an, zweimal lehnte Melchior ab. Er fürchtete, wie er es vornehm ausdrückte, dass ein Finanzminister jüdischer Abstammung in jenen Jahren „eine zu große psychologische Belastung für die junge Repu­blik“ sei.

Bankier Max Warburg unterstützt den Vorstoß.
Bankier Max Warburg unterstützt den Vorstoß. © Andreas Laible | Andreas Laible

Tragisch: Obwohl Melchior ein glühender Patriot war, dankte man ihm in der Heimat seinen Einsatz nur zeitweise. Zwar wurde er 1930 mit der Bürgermeister-Stolten-Medaille und zwei Jahre später mit der Walther-Rathenau-Medaille geehrt. Doch während seiner aufreibenden Arbeit sah er sich mit permanenten, auch antisemitisch motivierten Anfeindungen konfrontiert. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten trat er von allen öffentlichen Ämtern zurück.

1933 starb Melchior an einem Schlaganfall

Nachdem er seine Kräfte über viele Jahre permanent überspannt hatte und längere Zeit kränkelte, starb Carl Melchior Ende 1933 in Hamburg an einem Schlaganfall. Im September hatte er seine langjährige Freundin, die Französin Marie de Mo­lénes geheiratet, die Geburt des gemeinsamen Sohnes erlebte er nicht mehr. „Die ihn näher kannten, beschrieben ihn nach seinem Tode als bescheidenen, zugleich jedoch offenen, arbeitsamen Menschen von großer gedanklicher Klarheit und persönlicher Integrität, der nur der Sache selbst verpflichtet war“, schreibt die Historikerin Prof. Ina Lorenz über Melchior. Wolfgang Peiner weist darauf hin, dass Melchiors Verdienste während der NS-Zeit „bewusst in Vergessenheit gerieten“. An diese „traurige Tradition“ dürfe nicht angeknüpft werden.

Im vergangenen Jahr erinnerte immerhin die Ausstellung „Carl Melchior. Jüdischer Vorkämpfer eines europäischen Friedens“ an ihn – allerdings nicht in Hamburg, sondern im Jüdischen Museum Berlin. In einem bereits 1967 erschienenen Gedenkbuch schrieb der einstige Hamburger Bürgermeister Kurt Sieveking, Melchior habe sich immer bewusst „als Hamburger Bürger“ gefühlt. Das Buch sei „Ausdruck der Dankbarkeit, die eine Stadt wie Hamburg ihren jüdischen Mitbürgern (...) und ihrem Wirken für das gemeine Wohl schuldig ist“.