Hamburg. Wie wird Radfahren in Hamburg attraktiver? Stadtentwicklungsprofessor Jörg Knieling sagt: „Dürfen uns nicht mehr an Autos orientieren.“

Luftverschmutzung, Lärm und eine fortschreitende Versiegelung von Stadtraum für Fahrbahnen und Parkplätze zulasten von Grünflächen – der zunehmende Autoverkehr in Hamburg habe viele Nachteile, sagt Jörg Knieling, Professor für Stadtentwicklung an der HafenCity Universität. Er fordert einen „Kulturwandel in der Verkehrsplanung“. Im Abendblatt-Interview erläutert der Forscher, warum Hamburg als Stadt für Autofahrer gebaut wurde und an welchen Maßnahmen für Radfahrer in anderen Städten sich Hamburg orientieren könnte.

Hamburger Abendblatt: „Hamburg wird Fahrradstadt“, heißt es im neuen rot-grünen Koalitionsvertrag. SPD und Grüne wollen das Radfahren „so einfach, schnell und komfortabel wie möglich machen“. Noch dominiert insbesondere in der Innenstadt allerdings das Auto den Verkehr. Was hat den Ausbau des Radverkehrs bisher erschwert?

Jörg Knieling: Was die Mobilität angeht, ist die Planungskultur in Hamburg über Jahrzehnte hinweg an den Bedürfnissen des Autofahrens orientiert gewesen. Der Wiederaufbau der Stadt nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg fiel in eine Phase, die von dem Leitbild der autogerechten Stadt geprägt war. Das Modernitätsversprechen in den 1950er-Jahren lautete: Mit dem Auto wird das Leben in den Städten besser.

Wohnen und Arbeiten wurden in der Folge räumlich stärker getrennt, die Innenstadt stand eher für das Arbeiten, die äußere Stadt eher für das Wohnen. Deshalb wurden etwa große Schneisen wie die Magistralen als Einfallstraßen geschlagen, um mit dem Auto schnell in die Stadt zu kommen und wieder hinaus. Durch diese Infrastruktur und viele Parkplätze gab es für die zunehmende Menge an Pkw zunächst genügend Platz in der Stadt.

Es war damals nicht absehbar, welches Ausmaß der Autoverkehr in den folgenden Jahrzehnten annehmen und dass er die Stadt bald vor große Probleme stellen würde.

Gab es damals keine Kritik an dem Leitbild der autogerechten Stadt?

Knieling: Schon damals gab es kritische Diskussionen, beispielsweise über die Gefahren des Autoverkehrs und die Zerstörung der gewachsenen Städte, aber noch nicht in organisierter Form. Beispielsweise haben sich die Umweltverbände den Fragen des Verkehrs erst ab den 1970er-Jahren angenommen.

Wie kam es zu einem Umschwung?

Knieling: Eine maßgebliche Rolle spielte die Zunahme des Autoverkehrs. Anfang der 1950er-Jahre waren nur einige Zehntausend Pkw in Hamburg angemeldet. Bis in die 1970er-Jahre wuchs die Zahl auf rund 450.000 Pkw. Heute sind über 800.000 Pkw in der Hansestadt zugelassen. Mit dieser Entwicklung einher gegangen sind gesundheitliche Belastungen wie zunehmender Lärm und Luftverschmutzung durch Abgase, aber auch Unfälle und Verkehrstote. Eine weitere Folge ist die fortschreitende Versiegelung des Stadtraums für Autostraßen und Parkplätze zulasten von Grünflächen. Weniger Grün bedeutet unter anderem mehr Hitze in der Stadt. Mit der Zeit ist immer deutlicher geworden, dass all diese Faktoren die Lebensqualität in der Stadt einschränken können. Außerdem ist der Autoverkehr ein Hauptverursacher des Klimawandels. Dies alles hat zu Diskussionen über eine andere Mobilität geführt – und zu Forderungen, dem Fahrradverkehr mehr Raum in der Stadt zu geben.

Was folgt daraus für den Autoverkehr?

Knieling: Den Radverkehr zu fördern, kann nicht bedeuten, die Verkehrsfläche zu vermehren, denn dadurch gingen noch mehr Grünflächen verloren. Vielmehr muss der Stadtraum für Mobilität neu und gerechter verteilt werden. Das kann etwa dazu führen, dass an mehrspurigen Straßen ein Autofahrstreifen für Radfahrer umgewidmet wird. Oder es werden spezielle Fahrradstraßen oder Fahrradzonen ausgewiesen, wo das Radfahren Vorrang gegenüber dem Auto hat. Bremen hat gerade die
erste Fahrradzone Deutschlands eingeführt. Andere Maßnahmen können autofreie Bereiche in der Stadt sein, in denen Radfahren zulässig ist. Die Pilotprojekte im Rathausviertel und in Ottensen sind hierfür gelungene Beispiele.

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Dass Hamburg nach dem Willen von Rot-Grün eine „Fahrradstadt“ werden soll, ist in der Bürgerschaft seit Jahren umstritten, Teile der Opposition wehren sich dagegen. Die Wirtschaft befürchtet Einschränkungen für den Lieferverkehr.

Knieling: In der Diskussion wird das Schlagwort „Fahrradstadt“ teilweise missverstanden: Es geht nicht darum, Autos komplett aus der Stadt zu verbannen. Vielmehr kommt es darauf an, die sehr begrenzte Stadtfläche möglichst effektiv zu nutzen. Es sollte nicht die Frage sein, wie viele Fahrzeuge, sondern wie viele Verkehrsteilnehmer in angemessener Zeit von A nach B kommen. Dabei schneidet in der Stadt das Fahrrad mit Abstand am besten ab. Ziel sollte deshalb sein, Flächengerechtigkeit herzustellen und die Straßen vom Autoverkehr zu entlasten. Umfragen zeigen, dass mehr Menschen mit dem Rad unterwegs sein möchten, aber durch die fehlenden oder unsicheren Radwege davor zurückschrecken.

Apropos: In Hamburg sind Radwege an etlichen Stellen auch an vielbefahrenen großen Straßen auf die Fahrbahn verlegt worden, neben die Autostreifen. Das soll der Sicherheit dienen, ist allerdings schon oft kritisiert worden…

Knieling: … was damit zusammenhängen mag, dass sich nicht alle Radfahrer sicher fühlen, wenn neben ihnen schwere Lkw und Pkw mit Tempo 50 bis 80 vorbeirauschen. In anderen Städten, etwa in Montreal, gibt es vom Autoverkehr getrennte zweispurige Radstraßen auf einer Seite der Straße. Das erhöht das Sicherheitsgefühl beim Radfahren. Solche sogenannten Protected Bike Lanes ließen sich auch in Hamburg einrichten. Aber auch ein Tempolimit von 30 km/h würde zu mehr Sicherheit beitragen. Statistiken zeigen, dass die Unfallzahlen deutlich sinken, wenn langsamer gefahren wird. Nebenbei reduziert dies auch Lärm und verbessert den Verkehrsfluss.

In ihrem neuen Koalitionsvertrag haben SPD und Grüne eine „Prüfung von Umsetzungsmöglichkeiten“ für solche geschützten Radfahrstreifen vereinbart. An welchen Maßnahmen in anderen Städten könnte sich Hamburg noch orientieren?

Knieling: Kopenhagen ist ein Paradebeispiel für eine vorbildliche Fahrradkultur. Die Radwege auf dem Bürgersteig entlang von Hauptstraßen bleiben auch an Einbiegungen zu Nebenstraßen auf der Höhe des Bürgersteigs, sodass Radfahrer dort ohne Verzögerungen geradeaus fahren können. Dagegen müssen Autofahrer, die in eine Nebenstraße abbiegen möchten, deutlich abbremsen und diesen Hubbel überfahren und deshalb genauer auf die Radfahrer achten. Abbiegeunfälle stehen in Deutschland in der Statistik leider an erster Stelle. Die Radwege sind in Kopenhagen breiter, sodass dort auch die sehr populären Lastenräder genügend Platz haben. Außerdem gibt es dort mehr Raum für Fahrräder auf den Straßen, etwa breite Standbereiche vor Ampeln, wo Fahrräder vor die wartenden Autos fahren und dann bei Grün zuerst starten können. Wenn es auch in Hamburg gelingen soll, das Fahrradfahren attraktiv für viele Menschen zu machen, brauchen wir einen Kulturwandel in der Verkehrsplanung. Sie darf sich eben nicht mehr wie in den 1950er-Jahren am Auto orientieren, sondern wir benötigen einen Wettbewerb der Bezirke um gute Lösungen für das Radfahren.

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Zur Förderung des Radverkehrs planen SPD und Grüne auch vorübergehend angelegte Fahrradstreifen (Pop-up-Bikelanes), etwa in der HafenCity. Was halten Sie davon?

Knieling: Es ist sehr sinnvoll, solche Verkehrsversuche oder Experimente durchzuführen. Von Berlin über Paris bis Bogota zeigt sich, dass die zusätzlichen Radstreifen gut angenommen werden und zu einer deutlichen Entlastung der Städte führen. Mit Verkehrsversuchen geht man nicht sofort die Verpflichtung ein, etwas dauerhaft zu verändern, sondern kann zunächst die Akzeptanz testen, mit Bewohnern und Gewerbetreibenden darüber diskutieren – und anschließend die Testvariante oder eine modifizierte Version einführen oder die Idee auch verwerfen, falls sie sich nicht bewährt hat. Wichtig ist in jedem Fall der Dialog mit allen Beteiligten. Verkehrsversuche können nur gelingen, wenn die Stadt sie mit einer offenen und transparenten Bürgerbeteiligung begleitet.

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