Hamburg. Die Grünen-Fraktionschefs Jennifer Jasberg und Dominik Lorenzen über die Grote-Affäre und warum es sie abends in der City gruselt.
Bis vor einigen Wochen waren sie der breiteren Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Jetzt gehören Jennifer Jasberg (37) und Dominik Lorenzen (42) als neue Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Bürgerschaft zu den einflussreichsten Politikern in Hamburg. In ihrem ersten Abendblatt-Interview erklären sie, wofür sie diese Macht nutzen und was sie in der Koalition mit der SPD erreichen wollen.
Hamburger Abendblatt: Frau Jasberg, Herr Lorenzen, wer von Ihnen beiden hatte die Idee, sich als Doppelspitze für die Grünen-Fraktion zu bewerben?
Jennifer Jasberg: Die Fraktion hat uns inspiriert, darüber nachzudenken.
Das können ja nicht alle gewesen sein, weil Sie ja zwei Mitbewerber hatten ...
Jasberg: Es gab im Vorfeld Diskussionen in der Fraktion, weil ja klar war, dass Anjes Tjarks möglicherweise nicht mehr als Fraktionsvorsitzender zur Verfügung stehen könnte. Dabei ging es auch darum, welche Art von Führung es denn geben soll. Es ist dann sehr schnell zu dem für die Grünen nicht unüblichen Konstrukt einer Doppelspitze gekommen, die sich gerade bei der Größe der Fraktion und den anstehenden Aufgaben anbieten würde. Im Zuge dessen sind wir beide miteinander ins Gespräch gekommen.
Dominik Lorenzen: Wir sind ziemlich zeitgleich darauf gekommen, wir kennen uns ja auch schon einige Zeit. Und aus einem sehr langen Gespräch zwischen uns ist diese Idee dann entstanden.
Haben Sie beide eigentlich Spaß an der Konfrontation?
Lorenzen: Ja. Ich bin immer schon diskursfreudig gewesen. Ich pflege zwar einen sachlichen Stil, keinen polemischen, ins Persönliche gehenden. Die politische Bühne des Parlaments lebt aber auch vom polemischen Diskurs, damit Leben in die Bude kommt. Da kann ich auch mal draufhauen. Politik braucht Reibung und Zuspitzung.
Jasberg: Ich habe sehr große Lust am Gespräch. Ich rede gern und viel und tausche mich gern aus. Ich scheue zwar auch die Auseinandersetzung nicht, bin aber eher lösungsorientiert, das muss nicht immer über Konflikte gehen.
Worauf wir hinauswollen: Immerhin haben Sie sich nicht nur gegen das etwas bekanntere Duo Engels/Gwosdz durchgesetzt. Zuvor hatten Sie, Frau Jasberg, schon mal Parteichefin Anna Gallina bei der Listenaufstellung für die Bundestagswahl erfolgreich herausgefordert und Sie, Herr Lorenzen, als „Kammerrebell“ die Führung der Handelskammer gestürzt. Scheint so, als wenn Sie beide die Rolle des etwas rebellischen Underdogs mögen.
Jasberg:Mir ist klar, dass dies so wahrgenommen werden kann. Ich habe es bei der Bundestagskandidatur nicht so empfunden. Meine Entscheidung zu kandidieren ist deutlich früher gefallen als die Entscheidung von Anna Gallina. Das war also nicht so krawallig, wie es vielleicht wirkte. Ich habe persönlich keine Probleme mit Anna Gallina und verstehe mich mit ihr bis heute sehr gut.
Lorenzen: Als Underdog sehe ich mich überhaupt nicht. Ich habe damals für das Kammerplenum kandidiert, weil es in der Kammer- und Wirtschaftspolitik eine Loslösung zwischen dem gab, was die breite Basis der Unternehmen wollte, und dem, wie die Kammer aufgestellt war. Ich habe mich dann um eine andere Umweltpolitik gekümmert, wie ich es angekündigt hatte. Als Rebell würde ich mich nicht bezeichnen. Ich war Teil einer reformorientierten Gruppe.
Doppelspitzen hatte die Fraktion der Grünen in der Bürgerschaft bislang nicht. Was ist der Vorteil dieser Konstellation?
Jasberg: Wir beide sprechen unterschiedliche Gruppen und Milieus an. Das ist ein großer Vorteil. Wenn man so eine enge und vertrauensvolle Verbindung hat wie wir beide und so stark ergänzende Fähigkeiten, dann haben wir de facto viel mehr Power, für grüne Politik in den nächsten Jahren zu streiten.
Gibt es eine Arbeitsteilung, und wie sieht die aus?
Jasberg: Die entwickelt sich gerade. Ich bin angetreten mit einem innenpolitischen Profil und dem Blick auf Umwelt- und Agrarthemen. Dominik mit den Themen Wirtschaft, Stadtentwicklung und Verkehr. Langfristig wollen wir natürlich in allen Themen sprechfähig sein.
Erhalten Sie beide dreifache Diäten, wie bei Fraktionsvorsitzenden vorgesehen?
Lorenzen: Nein, zweieinhalbfach. Wir haben in dieser Legislatur durch die Größe unserer Fraktion den Anspruch auf zwei Stellvertreterposten. Durch die Doppelspitze bleibt es bei einem. Aber die Diät für den zweiten Stellvertreterposten teilen wir uns auf. Unter dem Strich bleibt die Summe also gleich.
Sie führen jetzt die mit 33 Abgeordneten größte Hamburger Grünen-Fraktion aller Zeiten, mehr als doppelt so groß wie in der vergangenen Wahlperiode. Was wollen Sie mit dieser Macht erreichen?
Jasberg: Wir wollen breiter in die Gesellschaft wirken. Wir haben zum ersten Mal in allen Wahlkreisen Abgeordnete. Und wir haben 31 Fachsprechende. Es gibt zum Beispiel das erste Mal eine tierschutzpolitische Sprecherin. Früher hatte ein Abgeordneter zum Teil fünf Themen zu beackern.
Die Frage zielte mehr auf die Ziele, die Sie erreichen wollen. Eines der wichtigsten Ziele der Grünen ist die Mobilitätswende. Wie überzeugt sind Sie, dass die SPD mitzieht?
Lorenzen: Wenn man den Koalitionsvertrag liest, sieht man, dass das Thema einen hohen Stellenwert hat, und es wurde mit entsprechenden Summen hinterlegt. Wir haben einen bis in die Haarspitzen motivierten Mobilitätswende-Senator mit Anjes Tjarks. In den nächsten Monaten wird diese Politik sichtbar werden. Ich spreche mit einer SPD, die sehr stark hinter diesen gemeinsamen Zielen steht. Ich habe da großen Optimismus.
Wenn es konkret wird, gibt es manchmal doch unterschiedliche Positionen. Der Sierichstraße eine Fahrspur wegzunehmen, um dort einen Radweg zu schaffen, fand die SPD schon mal nicht gut …
Lorenzen: Im Detail haben wir gewisse Reibungsflächen, etwa wie schnell wie viele Parkplätze wegfallen sollen. Das empfinde ich aber als konstruktiven Diskurs, weil beide Seiten gute Argumente anführen. Solche Reibung gehört zu einer Koalition, sonst bräuchte man ja nicht zwei Parteien.
Beim Thema autofreie Innenstadt hat man sich auf einen Kompromiss geeinigt. Reicht Ihnen das oder drängen Sie auf weitere Veränderungen?
Jasberg: Das ist ein Kompromiss. Wenn wir allein regieren würden, würden wir auch noch andere Projekte angehen. Aber wir sind uns jetzt einig mit der SPD.
Teil des Kompromisses ist es, die Anwohner und Eigentümer bei allen Maßnahmen stark einzubeziehen. Ist das der richtige Weg?
Lorenzen: Entscheidend ist in der Tat, dass wir die Akteure vor Ort mitnehmen. Ich habe mit einem Immobilienentwickler gesprochen, der schon komplett auf der Linie war, dass man schnell und viel verändern muss, um die Innenstadt-Quartiere als lebenswerte und attraktive Quartiere zu entwickeln. Ich glaube, dass die Menschen, die in der City leben, arbeiten und konsumieren, unsere größten Unterstützer sind. Die Veränderungen, die wir vornehmen wollen, sind ein Zugewinn an Lebensqualität. Wir haben im kleinen Maßstab bei den temporären Sperrungen in der Nähe des Rathauses gesehen, wie positiv das aufgenommen wird. Das wird sich noch verstärken, wenn die Leute erleben, dass es wieder einen Spielplatz, mehr Grünflächen gibt und nicht alles zugeparkt ist.
Hat denn die City als zentraler Einkaufsort aus Ihrer Sicht eine Zukunft?
Lorenzen: Die City hat eine Zukunft als zentraler Treffpunkt für Freizeit, Gastronomie und Einzelhandel in Kombination. Was wir nicht mehr brauchen, ist eine Innenstadt nur mit reinen Verkaufsstätten mit gigantischen Nettoverkaufsflächen ohne ein Drumherum. Es muss eine gute Mischung sein und mehr Anreize geben, in die Innenstadt zu kommen. Nehmen wir das Thema Belebung am Abend: Es ist doch gruselig, an einem Dienstag um 22 Uhr über die Mönckebergstraße zu gehen. Das ist ein totes Quartier, und es geht darum, um es ganz hart zu sagen, dass wir diese Quartiere retten. Wir brauchen eine neue Idee, wie diese Quartiere funktionieren können.
Was braucht es zur Rettung der Innenstadt?
Jasberg: Tolle Plätze, mehr Grün, mehr Wohnen – da muss wieder echtes Leben hin, wie man es aus Quartieren wie Eppendorf oder Ottensen kennt. Reine Einkaufsstätten braucht niemand mehr.
Ein Schwerpunkt der Grünen ist die Bekämpfung des Klimawandels. Nehmen Sie es Bürgermeister Tschentscher ab, dass er sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat?
Jasberg: Ich stecke nicht im Kopf von Peter Tschentscher und weiß nicht, was ihn persönlich motiviert, aber ich kann wahrnehmen, dass er klar hinter der Agenda steht, den Klimawandel ernst zu nehmen, dass wir in Hamburg unseren Beitrag leisten müssen und die bisher ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen.
Aber das Ziel der Grünen, die Klimaneutralität auf 2035 vorzuziehen, wollte er dennoch nicht unterschreiben.
Jasberg: Es ist ja nicht verwunderlich, dass wir Grüne bei dem Thema extrem hohe Ansprüche haben und uns von anderen Parteien unterscheiden. Am Ende ist die Jahreszahl nicht ausschlaggebend. Relevanter ist, dass man schneller und ehrgeizig effektive Maßnahmen umsetzt – und da haben wir im Koalitionsvertrag wichtige Punkte festgehalten, die dazu beitragen können, dass wir extrem viel CO2 einsparen können.
Lorenzen: Wir haben eine fatale Entwicklung insbesondere auf Bundesebene: Es werden ambitionierte Ziele formuliert, aber nicht ansatzweise erreicht. Dann werden als Lösung noch ambitioniertere Ziele formuliert. Statt dieser Ankündigungspolitik möchte ich hier und jetzt einen Beitrag leisten, zum Beispiel indem wir 140 Millionen Euro in die Landstrom-Technologie investieren.
Herr Lorenzen, haben Sie als Unternehmer Verständnis, wenn die SPD bei Klima und Umwelt mit Rücksicht auf die Wirtschaft hier und da bremst?
Lorenzen: Es ist kein Alleinstellungsmerkmal der SPD, an die Belange der Wirtschaft zu denken. Aber es kommt auf die Perspektive an: Ich sage ausdrücklich als Unternehmer, dass wir in Klimaschutz und ökologische Technologien investieren müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ich habe zum Beispiel in meinem Betrieb eine große Solaranlage auf einem Hallendach installiert. Das sorgt dafür, dass wir langfristig günstigere und vom Energiemarkt unabhängige Strompreise haben. Zweites Beispiel: Besagter Immobilienunternehmer sagte mir, dass sie gar keine Gebäude mehr bauen, die nicht ökologische Standards über dem gesetzlichen Limit haben, weil große Mieter da sonst gar nicht mehr reingehen. Es gibt Konzerne, die nur noch Hotels buchen, die gewisse Umweltstandards erfüllen. Und Unilever bucht keine Anzeigen mehr auf Facebook, weil die gewisse soziale Standards nicht erfüllen.
Was folgt daraus?
Lorenzen: Der Druck auf Unternehmen steigt. Branchen, die gewisse ökologische Kriterien nicht erfüllen, werden in Zukunft gar keinen Markt mehr haben. Wir sind mitten in einer extrem schnellen Transformation von einer sozialen zu einer ökosozialen Marktwirtschaft, und wir als Stadt können da entweder ganz vorn mitspielen und unsere Wettbewerbsfähigkeit sichern – oder wir können hinterherlaufen.
Der Start des Senats wird von der Umtrunk-Affäre um Innensenator Andy Grote belastet. Wie beurteilen Sie sein Verhalten?
Jasberg: Das ist sehr ärgerlich, und wir sind sauer. Wie soll man das all den Menschen erklären, die Kindergeburtstage absagen mussten oder Beerdigungen ohne Angehörige durchführen mussten? Wir verstehen, dass die Bürger sauer sind, und sind es auch. Es war aber richtig, dass Andy Grote sich entschuldigt hat und dass der Bürgermeister betont hat, dass das Riesenmist war, unabhängig davon, ob das noch irgendwie zulässig war oder nicht. Das spielt doch hier keine Rolle. Herr Grote ist der Vorbildfunktion, die insbesondere ein Innensenator hat, nicht gerecht geworden. Er hat damit dem Bemühen der Regierungsparteien und im Übrigen auch der Opposition, die Hamburger zur Einhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen zu verpflichten, einen Bärendienst erwiesen.
Ist es richtig, dass Bürgermeister Peter Tschentscher an Grote festhält?
Jasberg: Das ist die Entscheidung des Bürgermeisters.
Wann wäre das Maß voll?
Jasberg: Darüber zu spekulieren ist nicht unsere Aufgabe.
Wie groß ist der Rückhalt für Grote bei den Grünen – unabhängig von der Affäre?
Jasberg: Wir haben nicht über jedes Regierungsmitglied ein Meinungsbild in der Faktion eingeholt. Aber mein Eindruck ist, dass Andy Grote auch bei uns als verdienter und etablierter Senator gilt. Umso ärgerlicher ist dieser Vorfall.
Arbeiten Sie im neuen Job den Sommer durch oder gönnen Sie sich einen Urlaub?
Lorenzen: Es ist eine einmalige Herausforderung und Chance, an so einer prominenten Stelle für die Stadt Politik machen zu können. Dadurch ist mein Urlaub auf eine Woche Sächsische Schweiz zusammengeschrumpft.
Jasberg: Bei mir bleibt eine Woche Amrum übrig. Aber das geht in Ordnung: Wir haben ja viel zu tun.
Lorenzen: Genau. 200 Seiten Koalitionsvertrag – das ist wie ein riesiger Hausaufgabenzettel, den es abzuarbeiten gilt.