Hamburg. SPD-Bürgerschaftsfraktionschef über die Fahrrad- und ÖPNV-Stadt Hamburg und das Verhältnis zum grünen Koalitionspartner.

Es sei schon früh sein Traum gewesen, im Rathaus zu arbeiten, sagt Dirk Kienscherf im Abendblatt-Interview. So ist es gekommen: Seit 2018 ist der 54 Jahre alte Diplom-Kaufmann Vorsitzender der SPD-Bürgerschaftsfraktion, dem Parlament gehört er seit 2001 an. Kienscherf zieht nach den ersten Wochen des neuen rot-grünen Bündnisses eine positive Bilanz, allerdings trübt ein Ereignis das Bild.

Hamburger Abendblatt: Die neue rot-grüne Koalition arbeitet seit gut einem Monat. Wie fällt Ihre Bilanz der ersten Wochen aus?

Dirk Kienscherf: Unsere Zusammenarbeit ist nach wie vor geprägt von den Auswirkungen der Corona-Krise. Meine Bilanz fällt positiv aus, aber man darf nicht vergessen, dass es ja eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition ist. Das heißt, es gab keinen Stillstand zwischendurch. Die Fraktionsspitzen haben auch in den Wochen der Koalitionsverhandlungen immer eng mit dem Senat zusammengearbeitet.

Eine positive Bilanz, sagen Sie – wenn da nicht der Fall Ihres Parteifreundes Andy Grote wäre, der mit Parteifreunden in einem Club in der HafenCity seine Wiederwahl als Senator gefeiert hat.

Kienscherf: Jeder Mensch macht mal einen Fehler, manchmal fällt er größer aus und manchmal kleiner. Wichtig ist, dass sich Andy Grote für sein Verhalten entschuldigt hat – auch gegenüber der SPD-Fraktion. Damit ist das Thema für uns durch. Der Innensenator hat in den vergangenen Jahren hervorragende Arbeit geleistet. Wir haben die geringste Kriminalitätsrate seit Jahrzehnten in Hamburg, um nur ein Beispiel zu nennen.

Tschentscher: Grotes Fehler darf sich nicht wiederholen:

Tschentscher: Grotes Fehler darf sich nicht wiederholen

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    Haben Sie eine Erklärung für das Verhalten des Innensenators?

    Kienscherf: Es war vermutlich die Freude darüber, dass er wieder Senator geworden ist. Er hat wohl gedacht, dass juristisch alles in Ordnung ist, und dabei außer Acht gelassen, was das moralisch bedeutet und wie es auf andere wirkt. Das war der Mensch Grote, der das Zusammensein schätzt.

    Es gibt noch ein paar offene Fragen, die zu klären sind. Halten Sie es daher für richtig, dass sich die Teilnehmer auf Verschwiegenheit verständigt haben?

    Kienscherf: Ich war nicht dabei und kann das letztlich nicht beurteilen.

    Trotzdem noch eine Nachfrage: Wäre es im Sinne seiner Glaubwürdigkeit besser für Grote, reinen Tisch zu machen?

    Kienscherf: Nur der Innensenator selber kann beurteilen, was da stattgefunden hat. Für mich war immer wichtig, dass keine rechtlichen Rahmenbedingungen verletzt wurden.

    Im Wahlkampf ruckelte es kräftig zwischen SPD und Grünen. Sind die Foulspiele, wie Sie in einem früheren Abendblatt-Interview gesagt haben, vergessen und vergeben?

    Kienscherf: Wir haben schon in den Sondierungs­gesprächen das eine oder andere auf­gearbeitet, was dazu geführt hat, dass wir wieder eine gemeinsame Grundlage gefunden haben. Die Koalitionsverhandlungen waren zum überwiegenden Teil sehr konstruktiv, und deswegen glaube ich, dass das Thema abgehakt ist.

    Wo war es nicht konstruktiv?

    Kienscherf: Zwischendurch kochen auch mal die Emotionen hoch. Ich denke an das Thema Flughafen, den Bau der A 26 Ost oder die Vollhöfner Weiden in Altenwerder. Aber es ging immer darum, gemeinsam politisch etwas zu bewegen.

    Die Grünen-Fraktion ist jetzt doppelt so groß. Üblicherweise bedeutet das mehr Selbstbewusstsein.

    Kienscherf: Das Selbstbewusstsein der Hamburger Sozialdemokratie ist ebenfalls sehr groß. Die Hamburger SPD ist die erfolgreichste SPD in Deutschland, und das seit mehr als einem Jahrzehnt. Wir agieren sehr eigenständig und erfolgreich im Vergleich zur Bundesebene. Keiner hat uns dieses Wahlergebnis vor einigen Monaten zugetraut.

    Über die Zukunft der Innenstadt wurde im Wahlkampf intensiv diskutiert, und Rot-Grün hat sich da einiges vorgenommen. Wann wird der Jungfernstieg für den privaten Auto- und Motorradverkehr gesperrt?

    Kienscherf: Wir müssen sehen, ob wir beim Jungfernstieg auch erst mal zu temporären Lösungen kommen können, wie wir das im Passagenviertel planen. Sperrungen also zum Beispiel am Wochenende als eine Art Verkehrsversuch. Eine wichtige Frage ist, wie viele Baustellen wir in der Innenstadt gleichzeitig bewältigen können. Jetzt wird schon in der Mönckebergstraße und auf dem Ballindamm gebuddelt, dann auch noch auf dem Jungfernstieg? Realistisch gesehen, wird es hier frühestens Ende nächsten Jahres losgehen können.

    Der Grünen-Co-Fraktionsvorsitzende Dominik Lorenzen hat gesagt, es gehe jetzt darum, die City zu retten.

    Kienscherf: Die Situation hat sich durch Corona verschärft, keine Frage. Den Strukturwandel im Einzelhandel gab es aber schon vorher. Es geht darum, die Aufenthaltsqualität, den stationären Handel und das Online-Geschäft noch besser miteinander zu verzahnen. Noch 2019 war die Innenstadt sehr stark nachgefragt. Der Trend geht aber zu kleineren Verkaufsflächen. Vor zwei Jahren gab es bei den Mieten Spitzenwerte. Das nivelliert sich langsam.

    Karstadt und Kaufhof werden schließen, es gibt schon jetzt Leerstand in der City. Drängt die Zeit nicht in Wahrheit?

    Kienscherf: Die Zeit drängt. Aber wir werden zum Beispiel das Kontorhausviertel nicht in drei Monaten umgestalten. Die ganz Großen verändern sich in allen Städten. Auch Ketten wie H & M. Das muss die Stadt auffangen. Aber wir müssen doch auch sehen, was schon passiert ist in den vergangenen Jahren – im Passagenviertel, an der Dammtorstraße oder im Rathausquartier. Die Innenstadt hat jetzt die Chance, neue Akzente zu setzen, aber sie muss nicht gerettet werden.

    Was halten Sie von der Idee, das neue Naturkundemuseum in dem Karstadt- oder dem Kaufhof-Gebäude unterzubringen?

    Kienscherf: Hier geht es noch um die Rettung von Arbeitsplätzen. Da mache ich mir keine Gedanken über eine anderweitige Nutzung dieser Gebäude. Was einige da betreiben, ist Leichenfledderei und höchst unsolidarisch.

    Wie sieht Ihre Vision einer lebendigen Innenstadt denn aus?

    Kienscherf: Es braucht neue attraktive Plätze, Einzelhandelskonzepte und die Schaffung eines anderen Branchenmixes. Wir brauchen mehr Gastronomie in der City. Ihr Anteil liegt jetzt bei 15 Prozent. Das könnte man steigern auf 20 oder 25 Prozent. Es geht auch um Angebote für die ganze Familie. Letztlich geht es um die Frage, welche Marke diese Innenstadt eigentlich hat? Wie in ist es, hier zu sein?

    Und was sagen Sie?

    Kienscherf: Wir machen die Innenstadt jetzt fit für die nächsten Jahrzehnte. Städtebaulich ist die Innenstadt eigentlich schon wunderbar. Und da, wo sie nicht wunderbar ist, wollen wir jetzt rangehen. Wie trostlos ist es beim Kontorhausviertel: Da haben wir ein Weltkulturerbe, ein wunderschönes Chilehaus, und drum herum nur Parkplätze. Aber ich sage auch: Die Grundeigentümer in der City werden ihren Beitrag leisten müssen: Die Mieten müssen sinken. Das können Grundeigentümer, die hier schon lange am Markt sind, auch vertragen. Für die, die neu dazugekommen sind, ist das schwieriger.

    Rot-Grün will laut Koalitionsvertrag, „zusätzliche Wohnungen in der Innenstadt bauen“. Das ist ohne Zielvorgabe wenig ambitioniert.

    Kienscherf: Wir sind ambitioniert, aber das hat immer etwas damit zu tun, wie sich Gewerbeflächen in der City entwickeln. Ich kann leicht 200 oder 400 Wohnungen pro Jahr fordern, aber wenn es kaum Abrisse gibt, wird es schwierig. Hier gibt es kaum Freiflächen, und Nachverdichtung ist auch kaum möglich.

    Zurzeit leben 2000 Menschen in Alt- und Neustadt. Früher waren es 80.000. Ex-Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks glaubt, dass innerhalb einer Generation 25.000 Menschen wieder in der Innenstadt wohnen können. Ist das realistisch?

    Kienscherf: Das ist äußerst ambitioniert und wird kaum einzuhalten sein. Das wären ja 1000 zusätzliche Menschen pro Jahr. Wenn wir es schaffen, jedes Jahr im dreistelligen Bereich Wohnungen zu bauen, haben wir viel erreicht.

    Die Innenstadt soll bis 2025 „autoarm“ werden, etwa durch zusätzliche Fußgänger­zonen und weniger Parkplätze. Genauere Vorgaben, etwa zum Umfang der Verringerung des Durchgangsverkehrs, stehen im Koalitionsvertrag allerdings nicht. Was konkret soll „autoarm“ bedeuten?

    Kienscherf: Wir werden den Straßenraum für Autos in der City immer weiter verringern. Das bedeutet, dass wir längst nicht nur am Jungfernstieg den Verkehr herausnehmen wollen, sondern auch in Teilen des Passagenviertels, im Rathausquartier und neben der Mönckebergstraße. Im Kontorhausviertel werden wir Park­flächen erheblich reduzieren bzw. in Tiefgaragen verlagern. In vielen Bereichen wird der Autoverkehr also keine große Rolle mehr spielen.

    Der Anteil des Radverkehrs am Verkehrsaufkommen soll von 15 auf 25 bis 30 Prozent steigen. Dafür sollen jährlich 60 bis 80 Kilometer neue Radwege entstehen. Schon das bisherige Ziel – 50 Kilometer pro Jahr – ist verfehlt worden. Wie wollen Sie sicherstellen, dass nun bis zu 80 Kilometer entstehen?

    Kienscherf: Für den Ausbau der Radwege war viel mühevolle konzeptionelle Vorarbeit zu leisten. Die Umsetzung von weiteren Velorouten bedurfte einer breiten Bürgerbeteiligung, die sehr wichtig ist, aber eben auch langwierig sein kann. Aus diesen Gründen haben sich viele Projekte verzögert. Nun sind diese Vorhaben aber auf einem guten Weg. Hinzu kommt: Wir rechnen jetzt auch die Instandsetzung in den geplanten Ausbau der Radwege mit hinein. Früher hat man dagegen sanierungsbedürftige Radwege an Hauptverkehrsstraßen nicht instand gesetzt, weil man plante, später auf der Fahrbahn einen gesonderten Radfahrstreifen zu errichten. Das wollen wir jetzt ändern. Künftig wollen wir an etlichen Stellen, etwa an der Kieler Straße, bestehende Radwege erneuern und breiter machen – das geht schneller. Unsere Ausbaupläne sind gleichwohl ehrgeizig. Aber wir haben ja einen ambitionierten grünen Verkehrssenator. Wenn es trotzdem zu Problemen kommen sollte, wird die SPD-Fraktion ihn gerne unterstützen.

    Sind Sie froh darüber, dass das Thema und der damit verbundene mögliche Ärger nun bei den Grünen liegt?

    Kienscherf: Auch die Grünen werden nun stärker erfahren, dass das Thema sehr komplex ist, etwas mit Baustellen zu tun hat und dass es auch wichtige Verkehrsthemen außerhalb des Radverkehrs gibt. Hamburg wird nicht nur Fahrradstadt, sondern durch den Ausbau von Buslinien sowie U-und S-Bahnen auch ÖPNV-Stadt. Wir müssen den Autoverkehr zurückdrängen – auch dahingehend, dass wir Spielraum schaffen für den Wirtschaftsverkehr und für jene Bürger, die das Auto in bestimmten Situationen unbedingt brauchen. Dass wir trotz beengter Straßenverhältnisse sogar mehr Mobilität erreichen, werden wir nur hinbekommen, wenn wir den Individualverkehr per Auto reduzieren. Das hat aber mittlerweile außer der AfD fast jeder begriffen.

    Vor einem Jahr haben Sie heftige Kritik an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der S-Bahn geübt und die Kritik während der Koalitionsverhandlungen wiederholt. Warum geht es mit der S-Bahn nicht voran?

    Kienscherf: Es ist vom Bund 20 Jahre lang zu wenig in die Infrastruktur investiert worden. Das ändert sich jetzt. Die Bahn investiert nun unter anderem in Stellwerk- und Gleistechnik sowie Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Gleisanlagen, etwa an der Strecke nach Bergedorf. Im Citybereich werden Bahnsteige gesichert, damit keine Menschen mehr auf die Gleise laufen können, was in der Vergangenheit für erhebliche Störungen und für Verzögerungen sorgte. Die S-Bahn ist mittlerweile etwas besser aufgestellt, aber wir müssen den Druck aufrechterhalten. Es wird auch darauf ankommen, Mittel vom Bund zu bekommen, um die Digitalisierung voranzutreiben.

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    Sie sind seit fast 20 Jahren in der Bürgerschaft, seit fast zehn Jahren in einer Spitzenposition – was treibt Sie an?

    Kienscherf: Ich möchte dazu beitragen, dass sich diese wunderschöne Stadt weiterhin alle Menschen leisten können, die hier leben möchten. Hamburg ist bekannt für seine offene und soziale Gesellschaft – auch das soll so bleiben. Ich darf daran an zentraler Stelle mitwirken. Es war schon früh mein Traum, im Rathaus zu arbeiten. Bei der Bürgerschaftswahl haben wir gezeigt, dass Sozialdemokraten Wahlen mit deutlichem Abstand gewinnen können. Es treibt mich an, weiterhin zu zeigen, dass die Sozialdemokratie mehrheitsfähig ist.

    Welches rot-grüne Projekt ist für Sie persönlich das spannendste?

    Kienscherf: Der Ausbau der Schnellbahn sowie die Sanierung und der Ausbau des Hauptbahnhofs. Wenn wir das so hinbekommen, wie wir es uns vorstellen, wird die Mobilität in Hamburg einen entscheidenden Schub bekommen. Weitere besonders spannende Projekte sind für mich die Digitalisierung an den Schulen und die Herausforderung, den Klimaschutz mit innovativen Ansätzen so zu gestalten, dass wir alle Bevölkerungsteile mitnehmen. Klar ist allerdings: Es wird eine sehr herausfordernde Legislatur. Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf den Haushalt der Stadt. Es wird sehr fordernd sein, unsere Vorhaben auch finanziell zu untermauern.