Hamburg. Der frühere KZ-Wachmann spricht von einer “Hölle des Wahnsinns“. Sein Verteidiger fordert einen Freispruch für den 93-Jährigen.

Er hätte schweigen können. Er hätte sich den Worten seines Verteidigers anschließen können. Doch der frühere KZ-Wachmann Bruno D. ergreift nach neun Monaten Verhandlungsdauer im sogenannten Stutthof-Verfahren und dem insgesamt 44. Prozesstag selber nochmal das Wort.

Er wolle sich „heute bei den Opfern, die durch die Hölle des Wahnsinns gegangen sind, und ihren Angehörigen entschuldigen“, sagt der 93-Jährige mit Nachdruck. „So etwas darf niemals wiederholt werden.“ „So etwas“, das sind die Verbrechen, die in den Konzentrationslagern an den Gefangenen verübt worden sind.

Angeklagten wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen

Bruno D. sitzt im Gerichtssaal wie gewohnt in einem durchsichtigen Kasten, der ihn in Zeiten von Corona vor Ansteckung schützen soll, als der Mann mit dem dichten, schlohweißen Haar das Wort ergreift. Seine Gedanken und Gefühle auszudrücken, in einem Schlusswort, sei ihm „ein Bedürfnis“, erklärt der wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagte Hamburger mit leiser, aber fester Stimme.

Dass er sich 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor Gericht verantworten müsse, „hat mich viel Kraft gekostet“, sagt Bruno D. Es habe ihm aber auch die Möglichkeit gegeben, sich mit der Zeit auseinander zu setzen. Er wolle betonen, dass er sich „niemals freiwillig zur SS oder sonst einer Einheit gemeldet hätte, erst recht nicht im KZ.“ Dass er „als Wachmann auf einem Posten stehen musste, belastet mich heute noch sehr.

Hätte ich die Möglichkeit gesehen, mich dem Einsatz zu entziehen, ich hätte sie mit Sicherheit genutzt.“ Durch die Berichte der Zeugen und der Sachverständigen im Prozess sei ihm „erst das ganze Ausmaß der Grausamkeit und des Leids“, das den Gefangenen angetan wurde, „bewusst geworden“. Schon am ersten Verhandlungstag hatte der 93-Jährige gesagt, die Menschen im Lager hätten ihm „leid getan“.

Laut Staatsanwaltschaft war D. Teil der Mordmaschinerie der Nazis

Staatsanwalt Lars Mahnke forderte in seinem Plädoyer, den Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen zu drei Jahren Freiheitsstrafe zu verurteilen.
Staatsanwalt Lars Mahnke forderte in seinem Plädoyer, den Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen zu drei Jahren Freiheitsstrafe zu verurteilen. © Axel Heimken/dpa

Bruno D. wird vorgeworfen, er habe durch seinen Wachdienst in dem Lager bei Danzig vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945 „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“. Es geht dabei um die Tötung in der Gaskammer, in einer sogenannten Genickschussanlage sowie durch das Herbeiführen lebensfeindlicher Bedingungen. Vom Wachturm aus, so die Anklage, sei es unter anderem Bruno D.’s Aufgabe gewesen, Flucht oder Revolten von Gefangenen zu verhindern.

Er sei „Teil der Mordmaschinerie“ der Nazis gewesen. Die Staatsanwaltschaft hat nach Abschluss der Beweisaufnahme beantragt, Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen zu drei Jahren Freiheitsstrafe zu verurteilen. Der damalige Wachmann habe den Genozid „als das begriffen, was er war: ein staatlich angeordneter Massenmord“, hatte der Staatsanwalt gesagt.

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Bruno D.’s Verteidiger Stefan Waterkamp plädiert indes auf Freispruch für seinen Mandanten. „Die Verbrechen, die von vielen Deutschen begangen wurden, sind unbegreiflich und unverzeihlich“, betont der Anwalt. Das gelte auch für die Taten, die im Konzentrationslager Stutthof begangen wurden. Waterkamp nennt die Aussagen von Überlebenden des KZ, die im Prozess gehört wurden, „schockierend“. Auch seinen Mandaten hätten die Schilderungen der ehemaligen Gefangenen von Stutthof „schwer erschüttert“. Es sei insgesamt „eine Schande“, so der Verteidiger, dass nach Ende des Krieges „so viele unmittelbare Mörder nicht vor Gericht gestellt wurden“.

Verteidiger betont, dass D. nicht wusste, was im KZ passiert

Dass Bruno D. aber von einem Befehl, Menschen auch in Stutthof umzubringen, Kenntnis hatte, sei nicht nachgewiesen. Das Konzentrationslager Stutthof sei, anderes als beispielsweise Auschwitz, kein Vernichtungslager gewesen. Es sei nicht allgemein bekannt gewesen, dass auch dort alle Juden ermordet werden sollten. Aus damaliger Sicht sei der Wachdienst kein Verbrechen gewesen, man könne seinen Mandanten nicht für die dort verübten Morde mitverantwortlich machen.

So habe auch „keiner der Wachleute“ von der Genickschussanlage gewusst, so Waterkamp. Wegen der Tötungen in der Gaskammer von Stutthof sowie bezüglich der lebensfeindlichen Lebensumstände könne Bruno D. ebenfalls nicht der Vorwurf der Beihilfe zum Mord gemacht werden, argumentiert der Verteidiger. So seien etwa die Angaben des Angeklagten, er habe nicht gewusst, wie schlimm die Bedingungen beispielsweise in den Baracken gewesen sind, nicht widerlegt worden. „Er konnte das vom Wachturm aus nicht sehen.“ Bruno D. habe „nicht erkannt, was sein Wachdienst mit den Leichen im KZ zu tun hatte“.

Darüber hinaus sei der Befehl zum Wachdienst für den damals noch sehr jungen Mann „nicht sogleich als verbrecherisch zu erkennen“ gewesen. Es sei Bruno D. bei seinen Zeiten auf dem Wachturm darauf angekommen, keinen Schuss abzugeben. Verteidiger Waterkamp erinnert an die Beteuerungen des Angeklagten, er habe damals von seinem Dienst nicht weglaufen können, weil er sonst selber schwer bestraft worden wäre.

Sachverständiger wiederspricht den Aussagen des Angeklagten

. Ein historischer Sachverständiger hatte indes anhand von Dokumenten nachgewiesen, dass es Möglichkeiten gegeben habe, sich zu einem anderen Dienst versetzen zu lassen. Dass der Angeklagte von den Versetzungen Kenntnis hatte, „kann nicht nachgewiesen werden“, betont Waterkamp. Bruno D. habe zu Beginn, als er zur SS eingeteilt wurde, darum ersucht, in einer Feldküche eingesetzt zu werden. Als dies abgelehnt wurde, sei er davon ausgegangen, „dass es keinen Weg zurück zur Wehrmacht gab“. Befehlsverweigerung habe es seinerzeit praktisch nicht gegeben. „Wie sollte ein 18-Jähriger das damals leisten können?“, fragt der Verteidiger.

Falls das Gericht seinem Antrag, Bruno D. freizusprechen, nicht folgen wolle, plädiere er alternativ auf eine Bewährungsstrafe nach dem Jugendrecht, erklärt der Anwalt. Sein Mandant habe damals keine nationalsozialistisch-antisemitische Gesinnung gehabt. „Die Gefangenen taten ihm leid. Er sah für sich keinen Ausweg aus dem Wachdienst.“ Müsste sein 93 Jahre alter Mandant ins Gefängnis, würde Bruno D. damit von seiner Frau getrennt und „auch aus seiner Familie herausgerissen“. Den Strafvollzug würde der Angeklagte „vermutlich nicht überleben.“

Er hätte sich von Bruno D. in dessen Schlusswort „mehr innere Betroffenheit gewünscht“, sagt Christoph Rückel, einer der Vertreter der Nebenklage, im Anschluss an den Prozesstag. Bruno D. habe nach seiner Überzeugung „von dem Leid mehr mitgekommen“, als der Angeklagte es zugebe. „Er war auch da, damit keiner wegläuft.“

Am Donnerstag wird das Gericht das Urteil verkünden.