Hamburg. Der 68-Jährige ist Hamburgs oberster Rechtsmediziner und hat zuletzt auch wegen seiner Meinung zu Covid-19 polarisiert.

Er hätte sich Sehnenverletzungen und Knieschäden widmen können, dabei Tischtennisspieler oder Leichtathleten medizinisch betreut, vielleicht auch ganze Fußballmannschaften. Dass es anders gekommen ist im Leben von Klaus Püschel und er nicht Sportarzt geworden ist, wie er das als junger Mann immer wollte, ist wohl ein Verlust für die Sportmedizin, vielleicht sogar für manchen Bundesligaclub. Man weiß es nicht.

Ganz bestimmt aber ist es ein Gewinn für die Rechtsmedizin. Und für Püschel selbst. Er brennt für sein Metier, auch nach mehr als 40 Jahren noch. „Kein Fach ist so spannend wie die Rechtsmedizin“, sagt der 68-Jährige. „Unsere Arbeit ist dynamisch, überraschend und fesselnd.“ Das ist seine Überzeugung, seit Püschel gegen Ende seines Medizinstudiums in Hannover in einer Vorlesung des mitreißenden Rechtsmediziners Bernd Brinkmann saß – und dieser ihn sofort für das Fach entflammte.

Püschels Credo: Von den Toten lernen für das Leben

Den Toten ihre letzten Geheimnisse zu entlocken, die Wahrheit hinter Verbrechen zu ergründen und im besten Fall mitzuhelfen, die Täter zu überführen: Das ist es, was den Fachmann Püschel an seinem Beruf fasziniert. „Von den Toten lernen wir für das Leben“, ist das Credo der Rechtsmedizin, und so hat es der forensische Experte auch damals in dieser ersten Vorlesung gehört, in der er sich sofort für das Metier begeisterte.

In diesem Moment war es vorbei mit dem bisherigen Traumberuf Sportarzt. Und das, obwohl er damit seine Profession mit mehreren seiner Hobbys hätte kombinieren können. Schließlich hat sich Püschel schon immer intensiv mit Sport beschäftigt, in der Schulzeit schon als Tischtennis-Reporter für eine Zeitung und vor allem selber als aktiver Wettkämpfer. Der Bewegungsdrang kommt inzwischen oft zu kurz, denn der Terminkalender des Mediziners, der seit mittlerweile 29 Jahren Direktor des Instituts­ für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum ist, ist stets vollgepackt. Und seine Expertise ist nicht nur deutschlandweit, sondern in der ganzen Welt gefragt und geschätzt.

Klaus Püschel will nicht Angst machen, sondern aufklären

Wer den Chef in seinem Büro am Butenfeld besucht, trifft auf einen Mann, dessen forschender, durchdringender Blick unter der eindrucksvoll zerfurchten Stirn im ersten Moment auf manchen einschüchternd wirken kann. Der Gast sieht auch einen Raum, der von Akten, Glaskästen mit Schädeln und anderen Knochen, von Kartons, Fachzeitschriften und Büchern sowie den Dokumenten spektakulärer Kriminalfälle schier überzuquellen scheint.

Beides, das vordergründig Einschüchternde und das vermeintliche Chaos, entpuppen sich schnell als Fehleinschätzung. Hinter den Bergen von Papier steckt eine ganz eigene Ordnung. Und Püschel ist nicht etwa ruppig, sondern fokussiert und interessiert. Er will nicht Angst machen, sondern aufklären. Seinen Gesprächspartner – und die Verbrechen.

Hamburgs „Quincy“ oder „Boerne“ ist ein Überzeugungstäter, der dem Sensenmann in die Karten schaut. Und dadurch auch dessen brutalen menschlichen Helfern immer wieder das Handwerk legt. Er hat mit den „Säurefassmorden“ ebenso zu tun gehabt wie mit Verbrechen an Kindern, er hat neben etlichen anderen Tötungsdelikten einen Voodoomord in Benin aufgeklärt und beispielsweise Uwe Barschel mit obduziert. „Jeder Tag ist anders, jeder Tag ist spannend und erfüllend“, sagt Püschel, der 1976 in die Rechtsmedizin eingestiegen ist und auch bei Auslandeinsätzen beispielsweise in Syrien, Portugal, Japan, den USA und Ägypten tätig war und regelmäßig beruflich nach Ruanda reist.

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Rechtsmediziner kümmert sich Opfer von Missbrauch und Gewalt

Püschel sieht sich insgesamt als Arzt für die Schattenseiten des Lebens. „Meine Patienten sind die Schwächeren der Gesellschaft“, sagt er. Er engagiert sich für vernachlässigte alte Menschen und Obdachlose. Er kümmert sich um die Misshandelten, die Opfer von Missbrauch und Gewalt wie vergewaltigte Frauen und geprügelte Kinder. Und nicht zuletzt sind seine Patienten die Toten, die er mit seinen Untersuchungen zum Sprechen bringt, sodass geklärt werden kann, wie genau sich ein Verbrechen abgespielt hat.

Essenzielle Informationen, um einen Täter zu überführen. „Es ist eine ganz besondere Sichtweise des Arztberufes. Mein Spezialgebiet ist die Krankheit Gewalt.“ Deren Ausbreitung versucht er als Rechtsmediziner entgegenzuwirken. „Sie grassiert ähnlich wie eine Infektionskrankheit, wenn man die ,Infizierten‘ nicht unter Quarantäne setzt, also polizeilich verfolgt und einsperrt.“

Muss man da nicht an den Menschen verzweifeln?

Wer ständig beruflich mit Gewalt zu tun hat, mit den Leidenden und Geschundenen: Muss man da nicht an den Menschen verzweifeln? Püschel tut das nicht, im Gegenteil. „Positiv denken“ sind Worte, die immer wieder von ihm zu hören sind und die er selber so gut es geht ausfüllt. „Das Leben macht so viel Spaß.“ Zum Beispiel als Hochschullehrer, wo er sein Wissen und seine Faszination für sein Fach eifrig an Studenten weitergibt. Zum Beispiel als Autor von mittlerweile mehr als 50 Büchern. Er genießt darüber hinaus den Austausch mit Freunden und Kollegen, und Püschel betreibt nach wie vor gern Sport.

Heute ist es weniger das Tischtennis, das er früher erfolgreich spielte und wo er auch eine A-Lizenz als Trainer erlangte. Mittlerweile ist es eher Tennis. Vor allem aber hat sich der Familienvater verstärkt Ausdauersportarten wie Marathonlaufen und Radfahren gewidmet. Mit dem Rennrad tourt er durch Hamburgs Speckgürtel oder beispielsweise um den Tafelberg in Südafrika. Und bei der legendären Vätternrundan, einem 300 Kilometer langen Rennen um Schwedens zweitgrößten See, ist Püschel mittlerweile Veteran, hat es gut ein Dutzend Mal absolviert.

Einen Ausgleich vom beruflich fordernden und schnellen Takt findet der Hobbyimker auch bei seinen Islandponys, die für die ganze Familie eine gemeinsame Leidenschaft bilden. Und das Wichtigste: „Ich bin begeisterter Großvater.“

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Coronavirus: Es gibt keinen Grund zur Panik

Diesen Satz hat der Rechtsmediziner in den vergangenen Wochen auch gelegentlich öffentlich geäußert, in Interviews und in Talkshows. Nicht um sein Privatleben in den Fokus zu rücken, ganz bestimmt nicht. Sondern als Untermauerung für eine Überzeugung, die Püschel vehement und unerschrocken vertritt. Es ist der Umgang mit dem Coronavirus, zu dessen Folgen, Einschränkungen und Gefahren der forensische Experte sehr deutlich Stellung bezogen hat. „Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen und in Angst zu erstarren, sich von seinen Liebsten fernzuhalten. Ich würde mir beispielsweise nicht verbieten lassen, meine Enkel zu sehen, auch wenn ich mit meinem Alter von 68 zur sogenannten Risikogruppe gehöre.“

Püschel kennt das Problem Corona von innen; er hat von Beginn an die Menschen, die nach einer Infektion mit Covid-19 gestorben sind, obduziert. „Hier ist noch einmal sehr deutlich geworden, dass wir von den Toten lernen und für das Leben. Wir haben ganz viele Informationen zusammentragen über die speziellen Eigenarten des Virus, über den Verlauf der Krankheit. Aus diesen Erkenntnissen können wir Aspekte für Therapie und Impfstoffe ableiten“, erläutert Püschel. „Und hier bin ich letztlich zu der Einschätzung gekommen, dass Corona nicht eine besonders dramatische Erkrankung ist, sondern eine Viruserkrankung wie viele andere, die schon über uns hinweggerollt sind.“

Püschel geht ab Oktober in Pension

Die Untersuchungen zeigten auch, dass die von ihm untersuchten Menschen fast alle bereits sehr massive Vorerkrankungen hatten. „Die Lebensper­spektive war bereits deutlich eingeschränkt.“ Es sei zwar wichtig, besonders gefährdete Menschen wie Alte und Kranke zu schützen, mahnt Püschel. Aber das impliziere nicht, sie hinter Wänden zu verschanzen und von ihren Liebsten zu isolieren. „Das würde doch auch bedeuten, sie vom Leben abzuschneiden, ihnen den Sinn zu nehmen und das Glück.“ Genauso vehement vertritt Püschel die These, dass Kindern längst weitergehende Möglichkeiten hätten eröffnet werden sollen, in die Kitas zurückzukehren.

Für seine eigenen Enkel wird der Hamburger bald etwas mehr Zeit haben: Am 1. Oktober geht Püschel als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Pension. Es wird allerdings mitnichten ein Leben im Lehnsessel werden, sondern ein Unruhestand, seinem kreativen Naturell entsprechend. Als Seniorprofessor wird Püschel im wissenschaftlichen Bereich des UKE mit neuen Schwerpunkten arbeiten, zu Themen wie Archäologie und Anthropologie.

Er will mit seinem Senior-Team, anderen Experten beispielsweise aus Polizei und Justiz, ungeklärte „Cold Cases“-Fälle bearbeiten. Und im Hinblick auf seine Pensionierung beginnt er allmählich, für den Nachfolger sein Büro im rechtsmedizinischen Institut zu räumen, mit etwas Wehmut, aber auch mit Freude auf neue Aufgaben. An einer Schranktür prangt ein Zeitungsausschnitt, den Püschel schon vor Monaten mit einer Prise Selbstironie dort hingeheftet hat. Da heißt es: „Neuer Chef, neues Glück.“

Drei Fragen an Klaus Püschel:

1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre?
Ich möchte für meine Enkelkinder ein möglichst mobiler und spannender Großvater sein.

2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen?
Die Frage stellt sich für mich anders, weil ich demnächst in Pension gehe. Als Rentner möchte ich allerdings gern weiterarbeiten. Dazu gehört unter anderem, mit meinem Senior-Team, das sind gleichgesinnte, erfahrene Spezialisten aus Polizei, Justiz und Kriminologie, an sogenannten Cold Cases zu arbeiten – und möglichst auch den einen oder anderen zu lösen.

3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren?
Dass die Hamburger die Corona-Pandemie ad acta gelegt haben.