Hamburg. Aussagen der Professoren Püschel und Schulte-Markwort sorgten für reichlich Diskussionsstoff. Das Abendblatt hat sich umgehört.
„Angst essen Seele auf“: Die Thesen, die der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel und der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort vor einer Woche veröffentlicht haben (Abendblatt berichtete), sorgen für Aufsehen und Diskussionen. Inzwischen werden sie auch international zitiert.
Das Hamburger Abendblatt hat sich angesehen, was andere Wissenschaftler zu den angesprochenen Themen sagen und dabei festgestellt: So provokativ und gewagt, wie einige der Kernaussagen von Püschel und Schulte-Markwort klingen, sind sie nicht. Zumindest gibt es andere Experten, die ihre Thesen stützen. Die Aussagen im Einzelnen:
„„Keine der Zahlen, die wir kennen, rechtfertigt die Angst, die in Deutschland vor dem Virus geschürt wird.““
Michael Schulte-Markwort kritisiert in dieser Aussage, dass die jeden Tag veröffentlichten Zahlen der Infizierten und der Coronatoten suggerieren würden, dass die Sterblichkeitsrate (Letalität) bei drei, vier, fünf Prozent oder sogar noch höher liegen würde. Tatsächlich sind sich weltweit Wissenschaftler sowohl einig, dass es bei den Infizierten eine hohe Dunkelziffer gibt, als auch, dass die Letalität viel geringer ist. Zur Dunkelziffer: Forscher der Columbia Universität gehen davon aus, dass auf einen erfassten Fall sieben unentdeckte kommen.
Eine Antikörperstudie in Österreich hat ergeben, dass es dort Anfang April nicht wie offiziell vermeldet 8500, sondern bis zu 28.500 Fälle gegeben haben könnte. Wissenschaftler der Universität Stanford haben für den kalifornischen Landkreis Santa Clara einen 50- bis 85-mal höheren Wert festgestellt. Und britische Epidemiologen des Imperial College rechneten bereits Ende März für Deutschland rund 600.000 Infizierte, für Italien sechs Millionen und für Spanien sieben Millionen aus.
„Es ist inzwischen als Sachverhalt bekannt, dass wir die Gesamtzahl der Infizierten gar nicht kennen. Wer keine Symptome hat, wird nicht getestet, andere auch nur sehr eingeschränkt. Das wissen wir“, sagt der Mathematiker Gerd Bosbach. „Aber sobald wieder Zahlen genannt werden, tun wir so, als würden wir diese genau kennen. Was wir kennen, ist die Zahl der positiv Getesteten. Die Zahl der Infizierten ist auf jeden Fall deutlich höher, aber niemand kann sagen, um welchen Faktor.“ Zur Letalität sagte Deutschlands derzeit bekanntester Virologe, der Berliner Christian Drosten, bei „Maybritt Illner“: „Man darf sich von den aktuellen Zahlen nicht täuschen lassen. Die Infektionssterblichkeit wird, wie ich das schon vor Langem gesagt habe, zwischen 0,3 und 0,7 Prozent liegen, da werden wir keine Überraschungen mehr erleben.“
„„Corona ist eine vergleichsweise harmlose Viruserkrankung. Wir müssen uns damit beschäftigten, dass Corona eine normale Infektion ist, und wir müssen lernen, damit zu leben, und zwar ohne Quarantäne.“ “
Wie kann eine Erkrankung harmlos sein, die in Deutschland mehrere Tausend Todesopfer gefordert hat? Rechtsmediziner Klaus Püschel vergleicht Corona unter anderem mit der Influenza, die allein in der Grippesaison 2017/18 hierzulande 25.000 Menschen das Leben gekostet hat, und verweist darauf, dass die aktuelle Viruserkrankung in der sehr großen Mehrheit der Fälle mild verlaufe. Das bestätigt David Katz, Gründungsdirektor des Yale University Prevention Research Center: „Die Daten aus Südkorea, wo das Tracking des Coronavirus bei Weitem das beste zum jetzigen Zeitpunkt ist, zeigen, dass 99 Prozent der aktiven Fälle in der generellen Population ‚mild‘ sind und keine spezifische medizinische Behandlung brauchen.“
Sunetra Gupta von der Universität Oxford verweist auf eine Studie, die davon ausgeht, dass das Virus in Großbritannien schon zwei Monate vor dem Bekanntwerden des ersten Falls verbreitet gewesen wäre: „Sollten sich die Ergebnisse der Studie als richtig erweisen, würde dies darauf hindeuten, dass nur einer von 1000 infizierten Patienten eine Krankenhausbehandlung benötigt, und es besteht die Hoffnung, dass die ‚Lockdown‘-Maßnahmen des Vereinigten Königreichs früher als geplant aufgehoben werden könnten.“
Volker Ragosch, Sprecher der Ärztlichen Direktoren der Hamburger Asklepios-Kliniken, in denen mehr als die Hälfte aller stationär aufgenommenen Coronapatienten behandelt werden, sagt: „Die Grippewelle 2017/18 hat uns vor deutlich größere Probleme gestellt als im Augenblick Covid. Damals drohte der Krankenhaussektor wirklich an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu kommen.“
„„Die von mir untersuchten Todesopfer hatten alle so schwere Vorerkrankungen, dass sie, auch wenn das hart klingt, alle im Verlauf dieses Jahres gestorben wären.““
Diese Aussage von Klaus Püschel, dem Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, wurde am meisten zitiert. Wohl auch, weil in Hamburg wie in keinem anderen Bundesland Menschen, die an beziehungsweise mit Corona sterben, obduziert werden. Ein anderer Mediziner, der sich intensiver mit den Opfern des Virus beschäftigt hat, ist Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn. Er sagt: „Ich habe mir die Fälle von 31 der 40 Verstorbenen aus dem Landkreis Heinsberg einmal genauer angeschaut – und war nicht sehr überrascht, dass diese Menschen gestorben sind. Einer der Verstorbenen war älter als 100 Jahre, da hätte auch ein ganz normaler Schnupfen zum Tod führen können.“
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Natürlich lassen sich Regierungen in Deutschland und überall auf der Welt weiter von Virologen in der Bekämpfung der Krise beraten, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet zum Beispiel von dem oben erwähnten Hendrik Streeck. Was Püschel aber mit dem zweiten Teil der zitierten Aussage meint, deckt sich mit dem, was Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) vor Kurzem erklärt hat. Sie orientiert sich in ihrer Politik wegen der Ungenauigkeit der Zahlen (Stichwort Dunkelziffer) nicht mehr an den registrierten Fällen, sondern an der Belegung der Krankenhäuser und deren Intensivstationen. Denn: „Je mehr wir testen, desto höher wird die Zahl der erfassten Fälle sein. Testen wir weniger, sinkt sie automatisch. Deshalb schaue ich auf die Zahl der Patienten in den Kliniken, denn bei denen gibt es keine Dunkelziffer.“ Übrigens: Der Virologe Christian Drosten hat vor wenigen Tagen gesagt, dass er schon seit Wochen nicht mehr in Beratungen der Bundespolitik eingebunden ist.
„„Öffnet die Kitas und die Schulen so schnell wie möglich. Wir sollten uns primär um den Schutz von Risikogruppen kümmern. Und Schulkinder gehören nicht dazu.““
Diese These kommt von Michael Schulte-Markwort, und sie dreht sich um eine der entscheidenden Fragen in der Coronakrise: Sind Kinder wie bei der Influenza sogenannte Super-Spreader, sorgen also für eine massive Verteilung des Virus – oder sind sie es diesmal nicht? Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält es für einen „schwerwiegenden Fehler“, vor Wochen keine wissenschaftlichen Studien gestartet zu haben, inwiefern Kinder das Virus übertragen. „Wir müssen wissen, wie infektiös die Kleinen sind, das haben wir versäumt.“ Immerhin hat die Weltgesundheitsorganisation WHO sich zu dem Thema wie folgt geäußert: „Influenzaviren werden gerade von Kindern stark weiterverbreitet.
Bei Corona scheint das anders zu sein. Kinder und Jugendliche zwischen null und 19 Jahren sind selten von dem Virus betroffen. Studien aus China lassen den Rückschluss zu, dass Kinder vor allem von Erwachsenen angesteckt werden, umgekehrt aber selbst kaum Überträger sind.“ Auch die Ergebnisse einer Studie, die in der US-Fachzeitschrift „Clinical Infectious Diseases“ veröffentlicht wurde, deuten darauf hin, dass Kinder bei der Verbreitung keine wichtige Rolle spielen.
Dort wird der Fall eines neunjährigen französischen Kindes beschrieben, das trotz einer längeren Zeit unentdeckt gebliebener Coronavirus-Infektion niemanden ansteckte. Bei allen 172 Kontaktpersonen des Kindes seien Tests negativ ausgefallen, heißt es. Und bei einer Studie in Island, bei der 13.000 Personen auf Corona getestet wurden, gab es bei Kindern bis zehn Jahren keinen einzigen positiven Befund.
„„Gute Nachrichten im Zusammenhang mit dem Virus werden gar nicht mehr wahrgenommen.“ “
Gute Nachrichten im Zusammenhang mit Corona? Was meint Michael Schulte-Markwort damit? Einerseits die in Deutschland zurückgehenden Neuinfektionen, die deutlich aufgestockten Behandlungskapazitäten und die mehr als 10.000 Intensivbetten, die im Moment nicht belegt sind. Andererseits vielleicht aber auch Aussagen wie jene von Christian Drosten bezüglich einer möglichen Immunität, die es zumindest in einem Teil der Bevölkerung gegen das Virus geben könnte. Drosten bezog sich bei „Maybritt Illner“ auf eine Studie aus China und sagte: „Die Rate von denen, die sich in einem Haushalt infizieren, in dem bereits ein Infizierter lebt, liegt nicht bei 80 oder 90 Prozent, sondern bei 15 Prozent. Da fragt man sich schon, ob in einem Teil der Bevölkerung nicht eine gewisse, bisher unerkannte Immunität vorliegt.“
„„Wir sollten Deutschland langsam wieder aufmachen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.““
Diese gemeinsame Aussage von Klaus Püschel und Michael Schulte-Markwort stammt aus der vergangenen Woche. Inzwischen gibt es erste Lockerungen der Maßnahmen gegen Corona, aber auch Warnungen der Bundeskanzlerin und anderer Politiker, es dabei nicht zu übertreiben. „Das Eis, auf dem wir stehen, ist dünn und zerbrechlich“, hat etwa Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher gesagt. Trotzdem hatten sich zuletzt selbst Intensivmediziner für Lockerungen ausgesprochen. Zum Beispiel Stefan Kluge, der Leiter der Intensivmedizin am UKE: „Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass das nicht monatelang aufrechterhalten werden kann mit der Kontaktsperre.“
Lesen Sie auch das Pro und Kontra für Lockerungen:
Virologe Hendrik Streeck sagte zu dem Thema: „Wenn es noch einzelne Übertragungen beispielsweise im Supermarkt oder beim Friseur gibt, ist das nicht gut, aber auch kein großes Problem. Es wurde immer gesagt, dass unser Ziel nicht die restlose Eindämmung des Virus ist, sondern dass wir unter der Kapazitätsgrenze der Krankenhäuser bleiben. Das Virus einzudämmen, würden wir auch gar nicht schaffen, wenn wir nicht zwei oder drei Jahre zu Hause sitzen wollen.“
Einen interessanten Aspekt, was die Gefahr einer zweiten Infektionswelle angeht, erwähnt Matthias Schrappe, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung für das Gesundheitswesens: „Je wirksamer die allgemeinen Präventionsmaßnahmen sind, desto größer ist die Gefahr einer zweiten Welle.“ Er warnt zusammen mit mehreren Kollegen auch vor den gesundheitlichen Langzeitschäden, die Kontaktsperren und andere Beschränkungen zur Folge haben könnten.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden