Hamburg. Gestohlenes Sterillium, fehlende Messerstechereien – wie geht es in der Notaufnahme zu? Ein Arzt und eine Pflegerin berichten.

Dr. Ulrich Mayer-Runge sieht einen Kollegen an sich vorbei gehen und fragt: „Oh! Selbst geschnitten?“ Der andere weiße Kittel antwortet: „Nein, meine Frau, richtig gut, oder?“ Wenn sich Ärzte über Frisuren unterhalten, dann gewinnt man den trügerischen Eindruck, alles sei easy. Aber Entspannung in der Notaufnahme, die gibt es nicht. Wir stehen im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) direkt vor dem „sensiblen Bereich“ wie Mayer-Runge die Anmeldung nennt. Seit Corona muss das Personal hier noch mehr auf Zack sein als sowieso, denn es gilt, potenzielle Sars-CoV-2-Infizierte sofort herauszufischen.

Ein Mann kommt herein. Die Kollegin am Empfang fragt ihn nach fünf Punkten: Fieber? Husten? Luftnot? Fließschnupfen? Verlust des Geruchssinns? Antwortet er nur einmal mit „Ja“, wird bei ihm sofort ein Nasen-Rachenabstrich auf Covid-19 gemacht. „Es reicht ein Patient, der hier beispielsweise mit einem gebrochenen Bein reinkommt und seine Erkrankung noch gar nicht bemerkt hat, um uns alle anzustecken“, sagt der Ärztliche Leiter der Zentralen Notaufnahme. „Deshalb achten wir bei allen Patienten und Mitarbeitern auf die Einhaltung entsprechender Schutzmaßnahmen.“ Bislang wurde niemand aus Mayer-Runges Team angesteckt. Klopf, klopf, klopf!

Sandra Winterfeldt hat bereits Erfahrung mit Infektionswellen

Das liegt neben der strengen Abstrich-Regelung am bereits Mitte März angeordneten Mundschutz für alle und einem gelben ISO Wagen. Auf ihm liegt das Material, das benutzt wird, sobald jemand eingeliefert wird, der operiert oder reanimiert werden muss. Dann laufen Ärzte und Pfleger zum Wagen, legen Schutzbrillen, FFP2-Masken und Hauben auf – denn das Virus hängt sich gerne in Haare – und ziehen eine Schürze an. Die blaue Schürze bei kurzem Patientenkontakt, die grüne Schürze zum Schnüren bei längerem Aufenthalt im Schockraum.

Das war ihre Aussicht. In dem roten Eimer entsorgten die Ärzte nach jeder Behandlung ihr Schutzmaterial ­ gleich im Zimmer.
Das war ihre Aussicht. In dem roten Eimer entsorgten die Ärzte nach jeder Behandlung ihr Schutzmaterial ­ gleich im Zimmer. © Yvonne Weiß

„Das wichtigste ist nicht nur auf den Patienten, sondern auch auf die eigene Sicherheit zu achten“, erklärt Sandra Winterfeldt. Die Krankenpflegerin arbeitet seit zwölf Jahren in der Notaufnahme. Sie fühlt sich sicher, weil sie bereits Erfahrung mit Infektionswellen sammeln konnte und weiß, was zu tun ist: „Denken Sie an EHEC. Das war schlimmer als Corona, weil wir in wenigen Tagen ganz viele Schwerstkranke versorgen mussten und keiner den Erreger kannte. Von Angst will ich jetzt nicht reden, höchstens von Unsicherheit.“

Genug Materialien sind vorhanden

Alle gebrauchten Materialien entsorgt die 34-Jährige gleich im Behandlungszimmer. Nur die Maske hebt sie auf und legt sie in einen Sammelbehälter. Eventuell kann sie durch den Einsatz von Ozonbestrahlung wiederverwendet werden. Die Tests dazu laufen. Fielmann spendet demnächst eine neue Ladung Schutzbrillen, und auch sonst herrscht bislang kein Engpass an Materialien. In den vergangenen Wochen wurde reichlich eingekauft. „Unsere Mikrobiologie verfügt über gute Kontakte, dann bekommt man die Sachen auch,“ sagt ein anderer UKE-Mitarbeiter.

Dennoch wird der Verbrauch stark kontrolliert. Zu Beginn der Corona-Krise nahmen Diebe alles mit, was nicht niet- und nagelfest war. Sie tauschten etwa das Sterillium aus den Wandbehältern gegen Wasser. Inzwischen dürfen nur noch Personen mit Zugangskarte die Notaufnahme betreten. Es wurden neue Türen eingebaut, der Bereich ist abgeriegelt und in drei Bereiche geteilt: Auf der einen Seite der 3500 Quadratmeter großen Fläche befinden sich die Zimmer für Patienten ohne Corona. Dann folgt ein Bereich für Verdachtsfälle, bei denen die Testergebnisse noch ausstehen. Vor Tür U11 hängt ein gelbes Schild, eine Warnung für jeden, vor dem Betreten den Mundschutz anzulegen.

Kompletter Flur dient als Schleuse

Und dann, nach einer weiteren Tür, folgt schließlich die Isolierstation der Notaufnahme. Mayer-Runge betätigt den Türöffner immer mit seinem Ellenbogen. In Zimmer A1 bis A7 werden die Corona-Positiven untergebracht. Höchstes Infektionsrisiko. Der komplette Flur dient als Schleuse. Nicht nur die Mitarbeiter tragen Vollschutz, auch die Kranken müssen ihren Mundschutz anlegen, sobald es an ihrer Tür klopft. Es klopft nicht so oft. Zum Plaudern schaut niemand bei einem Viruswirt vorbei.

Ich lag auf A3. Nur deshalb kommt dieser Artikel zustande, denn es herrscht ein absolutes Besuchsverbot im UKE, selbst für Journalisten. Inzwischen bin ich wieder gesund, und Dr. Mayer-Runge ordnet im Nachhinein ein, was ich als Patientin auf der Station gesehen und erlebt habe. Was das rote Lämpchen an der Wand bedeutet beispielsweise? „Ein Notarzt oder ein Hubschrauber ist auf dem Weg zu uns,“ erklärt der Arzt. Alle in Alarmbereitschaft also, gleich geht’s rund. Wer in einer Notaufnahme arbeitet, weiß nie, welche Leben er in dieser Schicht retten oder verlieren wird.

In diesem Bett lag unsere an Covid-19 erkrankte  Reporterin.
In diesem Bett lag unsere an Covid-19 erkrankte Reporterin. © Yvonne Weiß

Warum so viele leere Betten auf dem Flur stehen? „In normalen Zeiten sind die alle belegt“, sagt der Facharzt für Innere Medizin. Die Gebäudeplaner gingen von einer Kapazität für 40.000 Notfälle pro Jahr aus, inzwischen sind es aber durchschnittlich 70.000. Corona allerdings hat die „normalen Zeiten“ abgeschafft und die Patientenzahlen mehr als halbiert. Das Wartezimmer: leer. Nicht mal das Licht ist an. Ob sich niemand mehr her traut? „Wir sind keine Hellseher, vielleicht werden die Leute auch seltener krank, weil sie beruflich weniger Stress ausgesetzt sind,“ sagt Mayer-Runge. „Wir haben auch weniger Schwerverletzte, weil auf den Straßen kaum noch Autos fahren, und niemand mehr feiern geht und sich betrunken mit Messern traktiert.“ Lockdown gleich Calm down.

Corona hat den Umgangston verbessert

Corona hat den Umgangston verbessert. Auf der Station wird weniger gebrüllt, die Leute rasten kaum mehr aus, weil sie zu lange warten oder sich gegenseitig Vorwürfe für eine Krankheit oder eine Verletzung machen. „Am liebsten würde ich das Besuchsverbot für Begleitpersonen immer aufrecht erhalten“, sagt ein Oberarzt. Jetzt könne er endlich so arbeiten wie es im Lehrbuch stünde. Gut, so ganz auszuschließen sind Wutanfälle selbst jetzt nicht, denn es gibt ja noch Psychosen. Sollte ein Patient eingeliefert werden, der richtig durchdreht und gleichzeitig den Coronavirus in sich trägt, dann wäre ein Teil der Belegschaft innerhalb von Sekunden infiziert. „Wenn er um sich schlägt und spukt, während wir versuchen, ihn zu fixieren, dann…“ Der Pfleger spricht den Satz nicht zu Ende. Worst Case.

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    Krankenpflegerin Winterfeldt sagt: „Ich habe das Gefühl, wir ernten mehr Respekt für unsere Arbeit. Plötzlich sind wir alle Helden.“ Boah, diese Heldengeschichten könne er echt nicht mehr hören, sagt ein Pfleger, der gerade ein lustiges Quarantäne-Youtube-Video auf seinem Handy angeschaut hat: „Wir waren doch vor Corona schon jeden Tag an der Front.“ Ein Rettungssanitäter stimmt ihm zu und meint, er persönlich habe weitaus mehr Angst, einen Tuberkulose-Erkrankten zu fahren als einen Sars-CoV-2-Infizierten. Dennoch: Respekt vor der Krankheit haben sie alle. Das Virus macht komische Sachen. Neulich beispielsweise, als ein relativ junger Patient aus dem Isolierbereich eigentlich fit wirkte und zwei Stunden später plötzlich auf der Intensivstation beatmet werden musste.

    Beim Husten eine Rippe gebrochen

    Wurde deshalb bei mir nicht nur der Sauerstoffgehalt im Blut so häufig gemessen (einmal musste ich dabei viele Kniebeugen machen), sondern auch über ein Röntgenbild nachgedacht? „Der Clip am Finger kann noch eine normale Sättigung anzeigen, während Ihre Lunge schon erste Umbauprozesse vornimmt, das sieht man dann mitunter erst im Röntgenbild oder im CT,“ erklärt Mayer-Runge. „Dann kippt das System, so schnell kann man manchmal gar nicht gucken. Der Patient fühlt sich nicht so schlecht wie es ihm eigentlich geht. Solche Verläufe gibt es.“ War bei mir zum Glück nicht so. Meine Schmerzen im Brustraum kamen nicht wie vom Rettungsarzt vermutet vom Herzen, sondern daher, dass ich mir beim Husten mindestens eine Rippe gebrochen hatte. Das muss man erst mal schaffen. Ich bin sehr stolz auf mich.

    „Freuen Sie sich doch über Ihre Immunität, ich hätte die Krankheit wirklich gerne hinter mir“, sagt der Chef. Sandra Winterfeldt nickt: „Ich auch!“ Dann sei endlich wieder ein Stück Normalität möglich. „Jetzt denkt man ja bei jedem kleinen Halskratzer gleich an Corona.“

    Ruhe vor dem Sturm

    Die Notaufnahme befand sich in den letzten Wochen in einer „Ruhe vor dem Sturm“-Phase. Die Mitarbeiter sahen die Bilder aus Italien, die steigenden Todeszahlen, die Warnungen der Virologen. Mayer-Runge selbst identifizierte den zweiten Corona-Positiven aus Hamburg. Die ersten Kranken wussten noch, wo sie sich angesteckt hatten. „Wir hörten immer nur Ischgl, Ischgl, Ischgl…“ berichtet ein Arzt. Er und seine Kollegen werden dort wahrscheinlich nie mehr Urlaub machen.

    Es wurde ein 3-Stufen-Plan entwickelt. Wenn es hart auf hart käme, kann sich die Notaufnahme bis auf die Polikliniken, die Intensivstationen bis in die Aufwachräume der OPs ausdehnen. 160 Patienten gleichzeitig können auf den Intensivstationen betreut werden, momentan sind es rund 25 Covid-19 Patienten plus ca. 100 andere Schwersterkrankte und -verletzte. Viele Mitarbeiter wurden an Beatmungsgeräten geschult, zusätzliche Ärztinnen und Ärzte von draußen stehen notfalls bereit. „Wir sind weit unter dem, was wir aktuell leisten könnten“, sagt Mayer-Runge. Er konnte einige Kollegen sogar aus einzelnen Schichten ins Frei schicken. „Dann hieß es, spätestens zu Ostern kommt der Tsunami,“ erinnert sich der Leiter der Notaufnahme: „Aber der Tsunami kommt hier nicht an.“

    Dynamik der Pandemie sei außergewöhnlich

    Dennoch unterstützt er die aktuellen Kontaktverbote, man müsse die Infektion unter Kontrolle halten: „Werden alle Schranken geöffnet, nehmen alle den Mundschutz runter, gehen essen und treffen sich beim Fußball, dann kommt der Sturm!“ Im Kollegium wird viel über die Meinung des Kollegen aus der Rechtsmedizin Klaus Püschel diskutiert („Angst ist überflüssig“), oder über Wolfgang Schäubles Ansicht, dem Schutz des Lebens nicht alles unterzuordnen. In einer Notaufnahme geht es ausschließlich darum, Leben zu retten. Da diskutiert man nicht über das richtige Maß oder über Alternativen. Doch nun wirken sich politische Entscheidungen plötzlich direkt auf das aus, was hier zu bewältigen ist bzw. sein wird. „Ich persönlich frage mich schon, ob unser System nicht noch etwas mehr zulassen könnte, damit wir zu einer schnelleren Durchseuchung kommen. Doch diese Entscheidung möchte ich nicht treffen,“ sagt Dr. Mayer-Runge.

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      Der 54-Jährige muss ganz andere Entscheidungen treffen, und seit Corona ist das, was er vorgestern beschlossen hat, übermorgen schon wieder Geschichte. Die Dynamik der Pandemie sei außergewöhnlich. Jeden Tag um 12 Uhr kommt der Arzt am Telefon mit einer Task Force zusammen. Ungefähr 30 Personen aus allen Bereichen des UKE inkl. Gas­tronomie und Logistik besprechen die aktuellen Probleme. Wie der Einkauf beispielsweise versucht hat, einen Container mit Masken in Kuala Lumpur auf ein Flugzeug nach Deutschland zu bekommen, sich der Container aber eine Stunde später plötzlich auf dem Weg in die USA befand. Zum vierfachen Preis des normalen weggeschnappt. Oder wann man die fünf Mitarbeiter, die sicherheitshalber in Quarantäne sind, zurückholen darf. Vieles muss nach Gefühl entschieden werden, weil es keine Standardantwort gibt. Corona erteilt jeden Tag neue Lektionen und wirft neue Fragen auf.

      Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

      • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
      • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
      • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
      • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
      • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

      Warum kürzlich etwa ein Patient positiv getestet wurde, der sich aus Angst schon vor vier Wochen zu Hause verschanzte und nicht mal dem Postboten die Tür geöffnet hatte? Man weiß es nicht. „Ich wüsste auch gerne, wie lange man wirklich immun bleibt“, sagt Sandra Winterfeldt. Ulrich Mayer-Runge hingegen würde gerne ein Experiment vorschlagen, um zu erfahren, wie viele Personen ernsthaft erkranken, wenn man alle aufeinander loslassen würde. 1000 Freiwillige sollten gemeinsam in ein Zelt ziehen, und dann mal gucken, was passiert. Das Schweden-Experiment sozusagen.

      Natürlich wird es diesen Test nie geben. Wer Antworten will, der stößt beim Coronavirus häufig auf Granit. Eine Sache aber, die weiß Mayer-Runge: „Wer ein ernstes Problem hat, soll sich bitte nicht scheuen, in die Notaufnahme zu kommen. Das Risiko, sich hier anzustecken, ist wahrscheinlich kleiner als wenn man beim Edeka eine halbe Stunde einkauft.“