Hamburg. Zeitzeuge Thomas Kreutzfeldt erinnert sich an seine Flucht zurück in die Stadt, den Schwarzmarkt und den Hunger.

Meine Mutter und ich lebten bis Kriegsende im österreichischen Zipf, wo die SS ein V2-Raketentestgelände betrieb. Ich war damals sieben Jahre alt, als wir 1945 nach der Kapitulation und österreichischen Ausweisung in zwei Wochen in offenen Kohle- und in Viehtransportzügen nach Hamburg zurückkehrten. Wir hockten in gebrauchten Wehrmachtsmänteln und Pferdedecken auf der Kohle und tauschten bei den vielen Halten Kohle gegen Essbares um.

Wir kamen an einem Maitag in Hamburg an, es war ein freundlicher Tag, die Sonne schien. Wir verließen den Bahnhof Dammtor und gingen auf der Rothenbaumchaussee neben den Straßenbahngleisen entlang in Richtung unserer alten Wohnung, vorbei am HSV-Stadion, Richtung Hermann-Behn-Weg. Weder wussten wir, ob der Rest der Familie überlebt hatte noch ob die Wohnung noch stand. Überall lagen die Trümmer zerbombter Häuser über den Gehweg verstreut, Menschen putzten Steine. Die Stadt roch leicht nach Verbranntem. Unsere Spannung wuchs mit jedem Schritt, den wir an kaputten Gebäuden vorbeigingen.

Als wir in den Hermann-Behn-Weg einbogen und das Haus 6 a unversehrt sahen, fing meine Mutter an zu weinen. Die Klingel funktionierte noch. Ihre Mutter und ihre beiden Schwestern staunten, uns lebend zu sehen.

Ein Zimmer von drei Schlafzimmern war durch Ausgebombte besetzt, kaltes Wasser gab es sporadisch, die Heizung war kaputt. Im Wohnzimmer stand ein Bollerofen, der Abzug führte durchs vernagelte Fenster. Holz gab es nicht zum Feuern, also klauten wir alles, was nicht niet- und nagelfest war und irgendwie brannte.

Wir hatten ein Dach über dem Kopf, zwei warme Betten, die ein Luxus gegen die stinkenden Pferdedecken waren, und litten keinen großen Hunger, weil meine Tante erfolgreich hamsterte. Getauscht wurden Teppiche gegen ein Stück Schwein, Schmuck gegen Fleisch. Immer musste man auf der Hut sein: Hatte man Pech, bekam man mit Gips gestrecktes Mehl oder auch eine Ente, die mit dem Schnabel rausguckte, aber der Rest in der Tasche dann mit Sand aufgefüllt meiner anderen Tante auf dem Schwarzmarkt angedreht wurde.

Ich erinnere noch, wie am Bunker Rothenbaumchaussee zwei britische Panzerspähwagen standen. Wenn wir als Kinder Glück hatten, gab es pappigen Toast mit Belag, egal, Hauptsache war, etwas zu kauen zu ergattern. Die Soldaten waren freundlich zu uns, verprügelten manchmal Ewiggestrige, während die englische Militärverwaltung den Prozess im Curiohaus gegen schlimme Nazis einleiteten. Nach dem Richterspruch sahen wir die Nazis beim Abtransport, die Menschen warfen Steine und faules Obst auf sie.

Zur Schule ging es mit Essgeschirr der Armee, anfangs trug ich nur Lappen an den Füßen, weil meine österreichischen Schuhe trotz abgeschnittenem Vorderteil, wo die Zehen rausgucken, dann zu klein und schließlich kaputt waren. Sobald es warm wurde, liefen wir eh immer barfuß herum. Irgendwann kam vor dem Winter ein Spendenpaket aus Norwegen – ich konnte Skistiefel ergattern, die waren viel zu groß und wurden passend mit Papier ausgestopft.

Unsere Schule an der Kielortallee wurde nicht geheizt, Essen gab es in den Baracken auf dem Gustav-Falke-Sportplatz. Meistens gab es Schulspeise-Suppen, die wir sofort aufaßen. Danach säuberten wir mit einem Lappen das Geschirr, um noch eine zweite Portion für zu Hause zu ergattern.

Wer von den Schülern noch richtig Appetit und Mut hatte, bekam für ein halbes Zahnputzglas voll mit weißem Lebertran entweder ein Stück Kaugummi oder ein Stück Cadbury, damals die Tauschwährung für andere oder wichtige Sachen, die man unbedingt brauchte.

Auch wenn es seltsam klingen mag: Rückblickend war alles nicht so schlimm. Vielleicht aber auch nur, weil wir Sott hatten, nicht ausgebombt wurden und meine Tante geschickt hamstern konnte, um die ersten Jahre ohne Blessuren heil zu überleben und immer irgendwie etwas zu essen zu haben ...

Thomas Kreutzfeldt war lange als Ingenieur im Bauwesen tätig und wohnt in Marmstorf. Aufgezeichnet von Matthias Iken