Hamburg. Bruno D. (93) will von den Morden im KZ Stutthof nichts mitbekommen haben. Kann das sein? Neue Zeugen sollen Klarheit bringen.

Den blass-roten Akten­deckel hält er dicht vors Gesicht. Eine dunkle Sonnenbrille verdeckt die Augen. Und seinen Hut hat er tief in die Stirn gezogen. So sitzt der Mann, der im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben worden ist, reglos da und wartet ab, bis die Fotografen ihre Bilder gemacht haben. Eine Aufnahme von seinem Gesicht gibt es nicht, Bruno D. möchte nicht, dass ihn jemand auf der Straße erkennt. Erst wenn die Kamerateams den Saal verlassen haben, senkt der 93-Jährige den Aktendeckel, nimmt Hut und Brille ab. Zum Vorschein kommt das Gesicht eines Mannes, der jünger aussieht, als es sein Alter vermuten lassen würde: dichtes, weißes Haar, kaum Falten. Er hält sich gerade und blickt mit wachen Augen in die Runde. Das Prozedere mit dem Aktendeckel ist zu Beginn eines jeden Prozesstages zum Ritual geworden.

Elf Verhandlungstage hat es bislang gegen Bruno D. gegeben, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, er habe als früherer SS-Wachmann im Konzentrations­lager Stutthof „die grausame und heimtückische Tötung von Häftlingen“ unterstützt und sei so ein „Rädchen der Mordmaschinerie“ der Nationalsozialisten gewesen. Noch immer sind viele Fragen offen. Wie etwa steht es um seine Aussage, dass er sich nicht seinem Dienst als Wachmann hätte entziehen können? „Ich war Soldat und habe Befehle ausgeführt“, hat er gesagt. „Dass das ein verbrecherischer Befehl war, da habe ich nicht daran gedacht. Ich konnte das nicht verhindern.“ Die Gefangenen, besonders die Juden, hätten ihm leidgetan, beteuerte Bruno D. Aber er habe ihnen nicht helfen können. „Ich habe niemandem was getan. Wenn ich mich geweigert hätte, auf dem Posten zu stehen, wäre vielleicht ein anderer gekommen und hätte das übernommen. Niemandem wäre damit gedient. Ich hätte nur mir geschadet.“

Drei Ärzte sind stets im Saal

Hätte es Möglichkeiten gegeben, auf einen anderen Posten versetzt zu werden? Zu diesen und anderen Fragen wird vom 6. Januar an der historische Sachverständige Stefan Hördler gehört werden. Hördler wird zu Aufbau und Organisation der Konzentrationslager aussagen sowie zur Struktur und zur Arbeitsweise der SS-Wachkompanien. Es wird auch um die Befehlsstruktur gehen, welche Anweisungen es gab und inwieweit die Wachleute ausgebildet und angeleitet wurden. Zur Struktur gehört zudem, mit Blick auf den Angeklagten, ob Fälle dokumentiert sind, nach denen Wachleute zu anderen Aufgaben gewechselt haben. Gab es Versetzungsanträge, war das ein legitimes Ansinnen, nicht mehr auf dem Wachturm Dienst leisten zu müssen? Was hat die SS mit jenen gemacht, die eine Versetzung beantragt haben? Hördler hat auch schon in früheren Stutthof-Verfahren als Experte ausgesagt.

Bruno D. wirkt bisher so, als könne er seinen Prozess gesundheitlich durchstehen. Drei Ärzte sind stets im Saal, um dem betagten Mann gegebenenfalls sofort beistehen zu können. Zehn Verhandlungstage sind noch bis Ende Fe­bruar terminiert. Neben der Anhörung des historischen Sachverständigen sind die Aussagen weiterer Zeugen geplant. Unter anderem soll ein Überlebender des KZ, der heute in Frankreich lebt, gehört werden. Der heute 92-Jährige hatte sich erst während des laufenden Prozesses als Zeuge gemeldet.

Bruno D. will von den Gräueltaten nichts mitbekommen haben

Die Aussage von Bruno D. scheint indes einer Richtschnur zu folgen: Ja, er war Wachmann in einem KZ. Nein, er hat nicht freiwillig diesen Dienst geleistet. Und vor allem will Bruno D. von den Gräueltaten und der Massenvernichtung nichts mitbekommen haben. Und das in einem Konzentrationslager, in dem die Nationalsozialisten rund 65.000 Menschen ermordeten und mehr als 100.000 Juden und politische Gegner unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen hielten — und wo er regelmäßig Dienst auf dem Wachturm versah, von August 1944 bis April 1945.

„Daran habe ich keine Erinnerung.“ Oder: „Das weiß ich nicht mehr.“ Diese Antworten fallen häufig im Prozess um die Ereignisse im KZ Stutthof. Nicht, wenn es um Erinnerungen beispielsweise zu seiner Uniform geht. Dann scheint sich Bruno D. präzise auf sein Gedächtnis verlassen zu können. Doch wenn es darum geht, was er als junger Mann vom Wachturm aus gesehen hat, was er über die Tötungen gewusst habe, beruft sich der 93-Jährige auf vage Vermutungen, aufs Vergessen, auf Unwissenheit. Dass Menschen vergast wurden, habe er nicht wirklich gewusst, sagt er und flüchtet sich oft in das unbestimmte „man“, anstatt „ich“ zu sagen: „Man hat sich vorgestellt“ formuliert er beispielsweise. Und: „Man hätte vielleicht geschossen“, wenn ein Gefangener versucht hätte zu fliehen. Doch er selber habe niemals sein Gewehr benutzt, beteuert Bruno D.

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Er habe „niemandem ein Leid angetan“. „Woran soll ich Schuld haben?“, fragt der 93-Jährige. „Was hätte ich tun sollen?“ Auch dass in den Monaten, die er dort auf dem Wachturm Dienst hatte, mehr als 50.000 weitere Gefangene in das Lager deportiert wurden, will er nicht mitbekommen haben, ebenso wenig die stundenlangen Appelle in der Kälte oder Erschießungen. „Davon weiß ich nichts“, sagt er. Auch den Berg mit Schuhen der Getöteten will er nicht gesehen haben. Gleichwohl nennt er Stutthof einen „Ort des Grauens“, mit vielen Leichen, die er gesehen habe, die meisten davon ausgemergelt. Nur wie diese Menschen gestorben sind, das habe er nicht gewusst.

Wie anders klingen da die Schilderungen von jenen Menschen, die die Tortur von Stutthof überlebt haben. Ein 93-Jähriger hat von Auspeitschungen erzählt und davon, dass Gefangene am Galgen ermordet worden. Und von den Gaskammern, die ständig in Betrieb gewesen seien. Ein anderer Überlebender hat willkürliche Quälereien und Erschießungen geschildert. Kann es da wirklich sein, dass der damalige Wachmann Bruno D. von den Tötungen nichts mitbekommen hat, wie er sagt?