Hamburg. Erneut hat der 93 Jahre alte Angeklagte sein Tun verteidigt und fragte: „Woran soll ich Schuld haben? Was hätte ich tun sollen?“
Es war eine Szene, die wohl jeden im Gerichtssaal berührt hat: Ein Mann, der im Zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager Stutthof gefangen war, dessen unfassbar großes Leid noch über viele Jahre dramatisch fortgesetzt wurde, umarmt im Prozess einen Mann, der dort im KZ auf dem Wachturm seinen Dienst geleistet hatte. Es war eine bemerkenswerte Geste der Vergebung. Wie diese Umarmung auf ihn gewirkt habe, möchte die Vorsitzende Richterin nun von dem wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagten früheren SS-Wachmann Bruno D. wissen. „Es war eine große Erleichterung“, antwortet der 93-Jährige.
Erleichterung: Bruno D. meint damit, dass der frühere Gefangene „mir vergeben hat“. Er will damit auch ausdrücken, „dass ich mich bei einem jedenfalls entschuldigen konnte, dass er so viel Leid erleben musste“. Aber noch im selben Atemzug, in dem der Angeklagte sein Mitgefühl mit dem Schicksal des früheren Gefangenen ausdrückt, möchte Bruno D. sich auch von einer Schuld freisprechen: „Ich habe da ja nichts dazu getan, dass ich Wache stehen musste“, betont er.
Bruno D. war nicht frontdienstfähig
„Ich wurde gezwungen. Ich habe niemandem ein Leid angetan.“ Das verstehe er auch so, dass er keine Schuld trage, erklärt der ehemalige Wachmann auf Nachfrage. „Woran soll ich Schuld haben? Was hätte ich tun sollen?“
Ja, was? Ob er sich hätte woanders zum Dienst melden können, fragt die Vorsitzende. Er hätte lieber beispielsweise eine Fabrik bewacht, antwortet der Angeklagte.
„Und wenn Ihnen jemand gesagt hätte, Sie könnten sich an die Front versetzen lassen. Wie hätten Sie entschieden?“ „Es hätte kein Wenn gegeben. Weil ich nicht frontdienstfähig war.“ Es ist der Moment, da bei Bruno D. so etwas wie Ungeduld und leichte Verärgerung hörbar wird. Er hätte auch niemandem der leidenden Menschen im Konzentrationslager helfen können, sagt der gelernte Konditor.
Angeklagter habe seinen Posten nicht verlassen
Er habe noch nicht einmal von seinem Wachturm runterklettern dürfen. „Seinen Posten durfte man nicht verlassen.“ Auch als bekannt wurde, dass die Fleckfieberepidemie ausgebrochen war, habe er niemandem helfen können. „Wenn jemand gesehen hat, dass ganz oft Tote rausgetragen wurden“, hakt die Vorsitzende nach: „Ich würde mir vorstellen, dass es eine menschliche Reaktion wäre zu überlegen: Was kann man dagegen tun? Haben Sie das damals auch so gefühlt?“
„Den Gedanken hat man schon gehabt. Aber man konnte nicht helfen.“ Dieses „man“ statt „ich“: Es drückt eine Distanz aus. Bruno D. scheint das selber bewusst zu werden. Also setzt er neu an: „Mir hat das schon sehr leid getan. Aber ich konnte nicht helfen. Ich konnte nicht sagen, ich gehe runter und mache irgendein Tor auf. Wie sollte das geschehen?“