Im Prozess gegen Bruno D. schildert Marek Dunin-Wasowicz das Grauen im KZ Stutthof – und fürchtet sich vor neuem Rassismus.
„Menschliche Leichen, das war der Alltag im Lager, fast an jeder Stelle.“ Es hat Jahre gedauert, bis Marek Dunin-Wasowicz über seine Zeit im Konzentrationslager Stutthof reden konnte. Doch heute fasst der 93-Jährige das Grauen, das er und so viele andere Gefangene in dem Lager durchleiden mussten, in klare Worte. Der Überlebende erzählt von den Tausenden Toten, von den Selektionen, von den Gaskammern, vom Hunger. „Bei jedem Appell, wo Häftlinge in Fünferreihen standen, lagen daneben Menschen, die an Hunger und Erschöpfung gestorben sind.
Täglich gab es Sonderkommandos mit Häftlingen, die den roten Wagen gezogen haben. Sie haben unterwegs die Leichen eingesammelt und karrten sie zum Krematorium. Solche Todeszüge habe ich oft gesehen.“
Marek Dunin-Wasowicz spricht mit kräftiger Stimme, sein Blick ist nach vorn zum Gericht gerichtet an diesem Prozesstag. Den Angeklagten Bruno D., dem in dem Verfahren vor dem Hamburger Landgericht als ehemaligem Wachmann im KZ-Stutthof Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen wird, hat der betagte Mann kaum angesehen. Anders der Angeklagte, der den Zeugen stetig beobachtet und jedes Wort von ihm aufmerksam zu verfolgen scheint. Beide Männer sind gleich alt. Bruno D. war einer jener Leute, die als Wachmann dafür sorgen sollten, dass niemand fliehen kann. Der Menschen wie Marek Dunin-Wasowicz vom Wachturm aus beaufsichtigt hat.
KZ: Mütter gewaltsam von ihren Kindern getrennt
Er habe gesehen, wie Selektionen unter ungarischen Juden vorgenommen worden und dann viele zur Gaskammer geführt worden seien, erzählt der 93-jährige Zeuge in seinen Worten, die aus dem Polnischen übersetzt werden. Wenn die SS-Leute entschieden hätten, dass jemand nach links oder rechts gehen sollte „und der Häftling wollte nicht gehen, ganz besonders, wenn es Frauen waren, die von ihren Kindern getrennt werden sollten“, dann seien die Aufsichtspersonen dazugekommen und hätten „sie gezwungen“.
Es habe ab Herbst 1944 viele Transporte mit überwiegend jüdischen Gefangenen nach Stutthof gegeben, so Dunin-Wasowicz. „Ich habe liegende Juden vor dem Eingang des Lagers gesehen, ohne Essen und Trinken, und rundherum standen SS-Leute, die sie bewacht haben.“
Die jüdischen Gefangenen seien getrennt von den anderen untergebracht worden und viel schlechter behandelt. „Wenn wir über Hungerrationen sprechen, die die Häftlinge bekommen haben, dann war das für die Juden noch weniger. Man musste also weder Peitschen benutzen noch andere Strafmittel. Die Juden waren total erschöpft ohne irgendwelche Hilfe von außen.“ Am nächsten Tag hätten Selektionen stattgefunden.
Menschen in Massentransporten nicht registriert
Ob alle im Lager wussten, dass die jüdischen Gefangenen eine noch schlechtere Behandlung bekamen als andere, möchte die Vorsitzende Richterin vom Zeugen wissen. „Und dass sie umgebracht wurden, in die Gaskammer kamen, nicht gearbeitet haben, sondern auf unterschiedliche Weise umgebracht wurden?“ Ja, so sei es gewesen, antwortet der 93-Jährige.
Die meisten dieser Häftlinge seien später verschwunden gewesen. „Wenn ich gesehen habe, dass Tausende Juden gekommen sind und keiner von ihnen später in irgendeiner Arbeit gewesen ist, dann muss doch irgendetwas mit ihnen passiert sein. Die Häftlinge haben sich untereinander darüber unterhalten. Die Tatsache war: Es gibt den Menschen nicht mehr.“
Die Menschen in den Massentransporten seien nicht registriert worden. „Diese Menschen bekamen nicht einmal eine Nummer. Sie waren anonym.“ „Für Sie war offensichtlich, dass Tausende Juden nach Stutthof transportiert wurden, die später nicht mehr da waren“, fragt die Richterin. „Da kam ein Transport an, mehrere hundert oder 1000 Juden, das haben wir gewusst“, antwortet der Zeuge. „Und dann waren sie nicht mehr da.“
Überlebender wurde gleichgültig im KZ
Er habe auch gesehen, wie Gefangene bis zur Gaskammer geführt wurden. Das seien Häftlingsgruppen gewesen, die von SS- Leute geführt wurden. „Das Hineinführen habe ich nicht gesehen.“ Die Gefangenen hätten sich dann „vollständig entkleidet, bevor sie in die Gaskammer gegangen sind. Die Bediensteten haben sich Mühe gegeben zu überzeugen, dass das ein Bad gewesen ist und keine Gaskammer.“
Davon, dass es im Lager auch Genickschussanlagen gab, habe er seinerzeit nichts gehört, so der Zeuge weiter. „Aber wir wussten, dass die Häftlinge massenweise mit Spritzen getötet wurden. Das war wohl das gleiche wie Schüsse ins Genick. Und über die Spitzen wurden viel gesprochen. Keiner hat es gesehen, aber es wurde viel darüber gesprochen.“
Auf die Frage, wie er es ausgehalten habe, so viel mit dem Tod und Leichen konfrontiert gewesen zu sein, antwortet der Zeuge: „Ich hatte sehr lange Zeit Probleme, bis ich angefangen habe, normal zu leben.“ Er habe damals „nicht reagiert. Leider hat keine Leiche, kein Sterbender, kein Gefolterter auf mich Eindruck gemacht. Ich bin gleichgültig geworden. Ich weiß, dass das eine fürchterliche Krankheit ist. Und ich war in Behandlung, um sie loszuwerden.“
KZ-Gefangene begleitet von ständigem Hunger
Die Baracken, in denen die Gefangenen untergebracht waren, beschreibt der Zeuge als grobe Bauten mit Schlaflager in drei Etagen. Es hätten jeweils meist drei Menschen in einem Bett auf einer Strohunterlage schlafen müssen. Zu essen habe es morgens ein Stück Brot und eine minimale Menge an Margarine gegeben und etwas zu trinken. „Manchmal sollte das an Kaffee, manchmal an Tee erinnern. Ich weiß nicht, woraus es gemacht wurde.“
Mittags habe eine Suppe gegeben, die meist aus Brennnesseln gemacht war und aus Rüben. „Und es gab das sogenannte Abendbrot: Wieder ein Minimum an Brot, aber ohne Margarine und höchstens eine Marmelade aus Rüben.“
Wie der KZ-Überlebende entkommen ist
Entkommen ist Marek Dunin-Wasowicz auf einem Evakuierungsmarsch, die auch Todesmärsche genannt wurden. Für den Weg hätten sie ein Stück Brot bekommen. „Ein halber Leib. Das war alles. Es war Winter, sehr viel Schnee, sehr frostig. Jede Strecke war anders, aber jede war tragisch. Nicht ohne Grund hat dieser Marsch Todesmarsch geheißen.“ Die Befehlshaber hätten sich nicht darum gekümmert, den Gefangenen irgendetwas zu essen zu geben.
Die Ortsansässigen hätten sich bemüht, den Gefangenen zu helfen. „Aber es gelang nicht jeden Tag.“ Einmal sei ihnen ein großer Kessel Suppe gebracht worden. „Aber einer von den SS-Leuten, die uns gewacht haben, hat mit einem Tritt verursacht, dass die Suppe in den Schnee geflossen ist.“ Einmal sei erlaubt worden, dass man ihnen Kartoffeln gibt. „Es waren total vergammelte Kartoffeln, Aber wir haben gegessen.“
Jeder, der vor Erschöpfung in den Schnee gefallen ist, sei mit einem Schuss aus einem Karabiner getötet durch die beaufsichtigenden SS-Leute. „Es waren viele Leichen, sehr viele.“ Wenn sie übernachtet haben, seien SS-Leute postiert worden, die sich alle zehn oder zwanzig Meter aufgestellt haben, „um uns bewachen, mit Befehl, auf uns zu schießen, wenn jemand flüchtet.“ Trotzdem sei es ihm gelungen, aus einem Lager der Hitlerjugend, in dem sie einmal übernachtet haben, zu flüchten.
Was den Zeugen antreibt, vor Gericht auszusagen
„Ich würde gern wissen, wie Sie sich heute fühlen, nach Deutschland zu kommen und hier zu sitzen und den Angeklagten zu sehen, der in Ihrem Alter ist und zur selben Zeit in Stutthof als Wachmann war“, fragt die Richterin zum Abschluss. Er sei nach Hamburg gekommen in ein Land, „das heute mit Polen befreundet ist“, antwortet der Zeuge. Aber im Prozess zu sitzen und als Zeuge auszusagen, das habe er aus dem Gefühl getan, „dass ich die Ehre erweisen muss all meinen Kollegen“ und die Zigtausenden Menschen, die in Stutthof umgekommen sind.
„Ich bin auch deswegen gekommen, um laut zu sagen, dass ich alles machen werde, um niemals auf der Welt das zuzulassen, was die Konzentrationslager waren. Ich habe Angst, wenn ich verfolge, was so passiert, in Deutschland, Polen, Frankreich und vielen anderen Ländern“, in denen Rassismus und Nationalismus wieder aktiver werde. „Deshalb komme ich und erzähle.“