Hamburg. Vorsitzende Richterin setzte den Angeklagten mit Fragen unter Druck. Er meint, er habe sich den Befehlen nicht entziehen können.

Der ehemalige Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, Bruno D., war nach eigener Aussage „überrascht“, dass er Angeklagter in einem Prozess sein würde. „Dass man die einfachen Wachleute vor Gericht stellen würde“, hätte er nicht geglaubt, sagte der 93-Jährige am Montag im Prozess vor dem Landgericht, in dem ihm Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen wird. Bis heute, fast 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sehe er „keine Schuld bei mir“, sagte der Angeklagte. „Ich habe niemandem ein Leid angetan.“

Als SS-Wachmann soll Bruno D. laut Anklage zwischen dem 9. August 1944 und dem 26. April 1945 „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt" haben. Zu seinen Aufgaben habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern.

Bruno D.: "Besonders die Juden haben mir leid getan"

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring hakte energisch nach, als der Angeklagte alle Schuld von sich wies. Und sie wollte wissen, warum sich der Wachmann damals nicht seinem Dienst entzogen habe. „Ich konnte mich den Befehlen, die dort gegeben wurden, nicht entziehen, ohne mich selbst in Lebensgefahr zu bringen", antwortete der 93-Jährige. „Ich war Soldat und habe Befehle ausgeführt. Dass das ein verbrecherischer Befehl war, da habe ich nicht daran gedacht. Ich konnte das nicht verhindern.“ Die Gefangenen, besonders die Juden, hätten ihm Leid getan, beteuerte er. Aber er habe ihnen nicht helfen können. „Ich habe niemandem was getan. Wenn ich mich geweigert hätte, auf dem Posten zu stehen, wäre vielleicht ein anderer gekommen und hätte das übernommen. Niemandem wäre damit gedient. Ich hätte nur mir geschadet.“

Das wollte die Richterin so nicht stehen lassen. „Sie sehen, dass unschuldige Menschen umgebracht werden“, sagte sie. Bruno D. habe auf dem Wachturm gestanden und habe dafür gesorgt, dass unschuldige Menschen, die getötet werden sollen, nicht fliehen konnten. „Sie stehen da und wirken daran mit. Da wäre doch Gelegenheit zu sagen: Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Das kann ich nicht mitmachen.“ Damals habe man das so nicht sagen können, antwortete der Angeklagte.

Richterin lässt Bruno D.s Erklärung nicht gelten

Auf die Bemerkung der Vorsitzenden, dass andere „sich versetzen lassen“ hätten, sagte Bruno D.: „Ich hätte das auch gern gemacht. Ich wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte.“ Die Richterin ließ das nicht gelten. Es seien damals in den Konzentrationslagern Millionen unschuldige Menschen umgebracht worden. Aber keiner, der sich Befehlen widersetzt hat, sei umgebracht worden. Das besagten jedenfalls die historischen Gutachten, so die Richterin. „Wäre es möglich gewesen“, wollte die Vorsitzende weiter wissen, „das KZ aufrecht zu erhalten, wenn es keine Wachleute gegeben hätte?“ Der Angeklagte antwortete mit einer Gegenfrage: „Hätte es überhaupt einen Krieg gegeben, wenn es keine Soldaten gegeben hätte?“

Er habe gesehen, dass auch unschuldige Menschen in den Lagern waren, erzählte Bruno D. „Ich habe das nicht für Recht empfunden.“ Zu Beginn, als er nach Stutthof kam, habe er gefragt, ob er nicht als Bäcker, Koch oder Schlachter eingesetzt werden könne. Doch man habe ihn auf dem Wachturm eingesetzt. Später, im Verlauf der Monate, habe er nicht mehr die Möglichkeit in Betracht gezogen zu fragen, ob er sich vom Dienst auf dem Wachturm befreien lassen könne.

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Richterin glaubt dem Angeklagten nicht

Trotz seines Dienstes über Monate auf dem Wachturm, mit dem Gewehr in der Hand, will Bruno D. nicht mitbekommen haben, wie die Gefangenen bei Appellen oft stundenlang in der Kälte stehen mussten. „Die Appelle waren nur eine halbe Stunde oder eine.“ Sie hätten morgens stattgefunden, um die Gefangenen durchzuzählen. Auf die Frage, ob bei diesen Appellen auch selektiert wurde, sagte Bruno D.: „Es ist möglich, dass ich gesehen habe, wie da einzelne rausgezogen wurden. Dass die woanders hingekommen sind. Aber wozu, das weiß ich nicht.“ Der 93-Jährige sagte, er habe ebenfalls nie den riesigen Berg von Schuhen gesehen, der im Konzentrationslager aufgeschichtet wurde. Auch dass Gefangene an dem das Lager umgebenen Elektrozaun umgekommen sind, habe er nicht gesehen. Vor allem habe er nie mitbekommen, wie Gefangene in Stutthof angekommen sind.

Die Vorsitzende mochte das nicht glauben. Laut Unterlagen müssten in den Monaten, in denen Bruno D. Dienst auf dem Wachturm hatte, etwa 50.000 neue Gefangene in dem Konzentrationslager angekommen sein. „50.000!“ Laut Sachverständigen hätten bei der Ankunft alle in Bereitschaft stehen müssen, erklärte die Richterin. „Auch die Wachleute.“ Nein, er könne sich daran nicht erinnern, beteuerte Bruno D. „Wenn ich gesehen hätte, wie die da angekommen sind, würde ich das sagen.“ Der Prozess wird fortgesetzt.