Hamburg. Koryski beschreibt im Hamburger Stutthof-Prozess Erschütterndes über den Sadismus der Wächter. Bejarano äußert sich.
Da waren die Misshandlungen. Täglich. Da waren systematische Quälereien. Und der Tod als dauerhafter Begleiter. Abraham Koryski, der Mann, der die Gräueltaten im Konzentrationslager Stutthof überlebt hat, hat fast zwei Stunden lang von dieser Hölle erzählt, in der er als junger Mensch gefangen war, er tat es mit kräftiger Stimme.
Doch nun kämpft der 92-Jährige um Worte – und mit den Tränen. Warum es ihm ein Bedürfnis war, in diesem Prozess als Zeuge auszusagen, in dem ein früherer Wachmann sich wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen verantworten muss? „Nicht wegen Rache“, betont Koryski nun. „Es geht nicht um Rache. Aber ich entschuldige und verzeihe nicht. Ich wollte, dass die Leute hören, was mit diesem Volk passiert ist. Die nächste Generation der Welt soll das erfahren.“
Hamburger KZ-Prozess: Was Esther Bejarano sagt
Mit diesem Anliegen liegt Koryski ganz dicht bei Esther Bejarano. Die mittlerweile 94-Jährige hat als junge Frau Auschwitz überlebt. Auch sie hat Furchtbares durchstehen müssen und wurde Zeugin entsetzlicher Gräueltaten. Und sie kämpft nun seit Jahrzehnten unermüdlich gegen das Vergessen, indem sie ihre Lebensgeschichte und die Geschichte von Auschwitz erzählt.
Und nun stehen in einer Verhandlungspause Abraham Koryski und Esther Bejarano zusammen, zwei hoch betagte Menschen, die ein Schicksal eint und die beide nicht wollen, dass in Vergessenheit gerät, was Millionen Menschen während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis angetan wurde. Er sei froh, dass sie an diesem Tag zum Prozess gekommen ist, sagt der 92-Jährige zu Bejarano. Er hat in ihr wohl eine Seelenverwandte gefunden.
Mit 16 ins Konzentrationslager Stutthof
Aufrecht und ohne eine Gehhilfe zu brauchen, ist der Zeuge in den Gerichtssaal gekommen, um seine Geschichte zu erzählen. Im August 1944, als er 16 Jahre alt war, ist er von Tallinn aus ins Konzentrationslager Stutthof gekommen. Sie seien dort immer wieder verprügelt worden, „die ganze Zeit, auch während der Arbeit“, schildert der Mann, der heute in Israel lebt. Schon die erste Nacht nach der Ankunft hätten mehrere seiner Leidensgenossen nicht überlebt. „Da war morgens ein Gestank von Leichen. Wir haben auch schon das Krematorium gerochen. Es gab ein penetranten Geruch.“
Unter anderem habe es zu seinen Aufgaben gehört, „das Krematorium sauber zu machen, nach dem Verbrennen“. Er habe Knochen zusammensammeln und „auf irgendwelche Wagen“ laden müssen. Einmal habe er auch ein Stückchen Brot zwischen den Knochen gefunden. „Vielleicht gehörte es einem Ermordeten. Das Brot habe ich gegessen.“ Immer wieder habe er es erlebt, wie die SS und auch Wachleute „sadistische Shows“ veranstaltet hätten, erzählt Koryski weiter.
SS-Offizier zwang Sohn, den Vater zu erschlagen
So sei er beispielsweise einmal Zeuge geworden, wie ein SS-Offizier einen Vater und dessen Sohn vor die Wahl stellte, dass einer von beiden den anderen mit einem Stuhlbein zu Tode prügeln müsse. Den anderen würde er verschonen. Daraufhin habe der Vater sich geopfert, und der Sohn habe ihn erschlagen. „Und dann wurde der Sohn auch erschossen. Ich frage euch alle“, ruft Koryski: „Kann man es glauben, dass Menschen so etwas machen können?“
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Auch die Wachmannschaften seien bei den sadistischen „Shows“ dabei gewesen. „Sie waren überall. Sie nahmen teil.“ Und nicht nur auf den Wachtürmen. Auch dass es eine Gaskammer gab, hätten alle im Lager gewusst, erzählt Koryski. „Alle sprachen im Lager darüber: Man geht darein, und man stirbt. Das wusste man.“
Todesmärsche durch die Kälte
Wenn Insassen versuchten zu fliehen, seien sie gefasst und öffentlich hingerichtet worden. „Dafür gab es auch einen besonderen Appell. Alle mussten dabei sein. Normalerweise wurden die Menschen erhängt. Das war gegenüber des Wachturms.“ Die Wachleute hätten die Insassen auch mit Peitschen geschlagen.
Das Schlimmste aber sei der Todesmarsch gewesen, erinnert sich der 92-jährige. Nur mit einem sehr kleinen Stück Brot als Proviant und ohne Wasser hätten die Gefangenen durch die Kälte laufen müssen, „halb nackt und manche ohne Schuhe. Wir haben Schnee gegessen. Wenn man nicht weitergehen konnte, wurde man sofort erschossen, und die Leichen wurden zur Seite weggeschafft. Mehrfach wollte ich mich hinsetzen, um erschossen zu werden. Die Schmerzen, das war unbeschreiblich.“
Und doch habe er überlebt, schließt Koryski. Gewissermaßen seine „Rache“ sei es gewesen, dass er all den Qualen habe trotzen können. „Dass ich es trotzdem geschafft habe, Kinder in die Welt zu setzen. Obwohl man mich vernichten wollte.“
Angeklagter Bruno D.: Keiner Schuld bewusst
Der Angeklagte Bruno D., der als KZ-Wachmann laut Anklage „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ haben soll, lauscht all diesen Schilderungen aufmerksam. Am vergangenen Verhandlungstag hatte der 93-Jährige erklärt, er sei sich keiner Schuld bewusst. „Warum sollte ich daran Schuld haben?“ Als Einzelner hätte man den Menschen nicht helfen können. „Die Menschen haben mir leid getan. Aber ich konnte ihnen nicht helfen“, beteuerte der Angeklagte.
Esther Bejarano findet solche Prozesse „wahnsinnig wichtig“. „Weil wir eine unmögliche Zeit haben mit einem furchtbaren Rechtsruck.“ Wenn nicht „Schluss gemacht“ werde „mit den Aufläufen von Neonazis, dann sehe ich wirklich schwarz“. Bei Bruno D. handele es sich um einen Menschen, der kein Soldat habe sein wollen. „Was ist schlimmer?“, fragt Bejarano. „Ein Soldat zu sein oder an einer Todesmaschinerie mitzuwirken?“
Es gehe ihr nicht darum, dass der über 90-Jährige in Haft komme. Aber er müsse ihrer Überzeugung nach „verurteilt werden, weil er dabei war. Dadurch hat er eine Strafe verdient.“ Eine Geste der Versöhnung wie die eines Überlebenden von Stutthof, der den Angeklagten umarmte und sagte, er verzeihe ihm, könne sie sich „nicht vorstellen“, betont Bejarano. „Diese fabrikmäßige Ermordung von Menschen, da kann man doch nicht vergeben."