Hamburg. Die Ökopartei stimmte 2015 der Rodung zu, jetzt ist sie dagegen. Die Welt ist heute eine andere, aber reicht das als Grund?
Es ist ein eher unscheinbares Dokument, noch dazu in sehr trockenem Amtsdeutsch geschrieben. Und der Titel „Verordnung über Hafenplanverordnungen in Altenwerder West“ stimuliert auch nicht gerade den Leseanreiz. Doch die drei Seiten, veröffentlicht im Hamburgischen Gesetz- und Verordnungsblatt am 10. Mai 2016, sagen angesichts des heftigen Streits über die Vollhöfner Weiden, die sich durch Selbstaussaat zu einem Wald gewandelt haben, plötzlich etwas über die Glaubwürdigkeit grüner Politik heute aus.
„Gegeben in der Versammlung des Senats, Hamburg, den 3. Mai 2016“ heißt es am Ende der Verordnung etwas altväterlich. Das bedeutet nichts anderes, als dass SPD und Grüne, die damals wie heute den Senat bilden, gemeinsam den Beschluss gefasst haben. Im Kern geht es darum, die 44,5 Hektar große Fläche, ein ehemaliges, sich selbst über viele Jahre überlassenes Spülfeld, vom Hafenerweiterungsgebiet in Hafennutzungsgebiet zu überführen. „Damit wurden die notwendigen planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine spätere hafenwirtschaftliche Nutzung dieses Gebiets geschaffen“, wie der Senat in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage der beiden FDP-Abgeordneten Michael Kruse und Kurt Duwe kurz darauf mitteilte.
Beschluss sollte Logistikfirmen nach Hamburg locken
Vorgesehen ist, auf der Fläche südlich des Aluminiumwerks Lagerhallen zu bauen. „Wir wollen noch mehr Logistikunternehmen am Standort Hamburg ansiedeln und den Unternehmen, die schon da sind, Erweiterungen ermöglichen“, sagte der damalige Wirtschaftssenator Frank Horch (parteilos) im Mai 2016 optimistisch. Dass die wirtschaftliche Nutzung der Vollhöfner Weiden zwischen SPD und Grünen im Ergebnis jedenfalls unumstritten war, zeigt auch ein Blick in den Koalitionsvertrag von 2015. „Die Ausbauvorhaben im Hafen werden fortgesetzt“, heißt es auf Seite 29 und dann folgt eine lange Liste mit konkreten Projekten, darunter auch die „Fläche Altenwerder West (Überführung in das Gebiet des Hafenentwicklungsgesetzes)“. Schon 2016 erhoben BUND und Nabu Klage gegen die Verordnung vor dem Verwaltungsgericht – eine Klage, die bis heute nicht entschieden ist.
Ganz so dringend scheint es dann mit der Ansiedlung der Logistikunternehmen doch nicht gewesen zu sein, denn bislang hat die zuständige Hamburg Port Authority (HPA) nicht einmal die damals angekündigte Machbarkeitsstudie erstellt. Aber heute, dreieinhalb bzw. viereinhalb Jahre Jahre später, ist die Welt politisch eine andere. Alle reden über den Klimawandel, und die Grünen erleben in Hamburg einen nie gekannten Höhenflug.
Rodungen werden erneut Thema bei Koalitionsverhandlungen
Den Koalitionsvertrag 2015 haben die Grünen noch als 12,3-Prozent-Partei abgeschlossen. Heute agieren Bürgermeisterkandidatin Katharina Fegebank und ihre Mitstreiter vor dem Hintergrund von 31,3 Prozent bei den Bezirksversammlungswahlen im Mai und von Umfragen zur Bürgerschaftswahl, die die Grünen zum Teil gleichauf mit der SPD sehen. Daraus lässt sich ein anderer Gestaltungsanspruch ableiten.
„In Zeiten des Klimawandels passt es nicht, Wälder für Logistikflächen zu roden“, sagt Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) heute selbstbewusst und wendet sich damit gegen die Vereinbarung aus dem rot-grünen Koalitionsvertrag. Und Kerstan kündigt schon mal an, die Zukunft des alten Spülfelds, auf dem nach Einschätzung von Ökologen ein Urwald entstanden ist, zu einem Thema bei etwaigen Koalitionsverhandlungen nach der Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020 machen zu wollen.
Natürlich kann ein Politiker seine Meinung ändern – genauso wie die ganze Partei. Nur stellt sich dann die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Sicher ist, dass die Glaubwürdigkeit des Umweltsenators in der Ökoszene, bei BUND, Nabu und bei den Aktivisten gewachsen ist, die die Fläche in Altenwerder besetzt hatten. Aus Sicht des Koalitionspartners SPD stellt sich eher die Frage nach der Verlässlichkeit der Grünen.
Handfesten Krach zwischen Roten und Grünen
Kerstan hat sich jedenfalls als unerschrockener Streiter für den Grünerhalt und als Anwalt der Besetzer im Vollhöfner Wald profiliert, mindestens Letzteres sehr zum Missfallen der Sozialdemokraten. Die Senatsvorbesprechung am Dienstag führte zu einem handfesten Krach zwischen Roten und Grünen. Dabei sprach sich Kerstan massiv gegen eine Räumung des Geländes aus.
Zum einen glauben die Grünen, dass so eine Eskalation des Protests besser vermieden hätte werden können. Zum anderen halten sie eine Räumung für rechtlich zweifelhaft, unter anderem mit dem Hinweis, es handele sich gar nicht um eine Besetzung, weil das Areal kein eingefriedetes Gelände sei. Am Ende setzte sich Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) mit seiner Richtlinienkompetenz durch: Die aus Sicht der SPD nötige rechtsstaatliche Räumung lief am Donnerstagmorgen an. (Siehe Seite 11).
Es gehört zu den ungeschriebenen Regeln im Rathaus, dass sich die Koalitionspartner nach einer strittigen Senatsentscheidung nicht weiter öffentlich beharken. Doch daran hielt sich Kerstan nicht, als er während der Räumung twitterte: „Es gibt zurzeit keine zwingend rechtliche Notwendigkeit für eine Räumung. Das ist ein überflüssiger Einsatz.“ Allein diese Äußerung spricht Bände für das Verhältnis von SPD und Grünen vier Monate vor der Bürgerschaftswahl.
Vor der Wahl soll kein Baum fallen
Es gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Falls, dass eigentlich nicht klar ist, ob überhaupt und, wenn ja, wann die HPA die Vollhöfner Weiden bebauen will. Der Streit zwischen SPD und Grünen hob an, als Kerstan auf einer grünen Landesmitgliederversammlung verkündete, er habe sich mit dem fachlich zuständigen Wirtschaftssenator Michael Westhagemann (parteilos) geeinigt, wonach vor der Wahl in Altenwerder West kein Baum gefällt werde. Kerstan hatte von seinem Senatskollegen vorher berechtigterweise wissen wollen, ob die HPA noch vor der Wahl etwas plane.
Möglicherweise wussten beide nicht, dass die verantwortliche Hafenbehörde längst einen anderen, völlig entspannten Zeitplan aufgestellt hatte. Auf der Internetseite der städtischen Projektrealisierungsgesellschaft ReGe Hamburg, die im Auftrag der HPA tätig geworden war, wird der Sachstand der Planungen beschrieben. Und zum Thema Baustart heißt es kurz und knapp: „nicht vor 2023“. Da hätten sich die Koalitionspartner im Grunde manchen Ärger miteinander sparen können. Allerdings: Schon wird in den Behörden darüber diskutiert, seit wann der präzise Zeithinweis auf der ReGe-Seite steht ...
Andererseits: Für die Grünen dürfte sich der Konflikt unter dem Gesichtspunkt der Mobilisierung eigener (Kern-)Wählerschichten durchaus gelohnt haben. Kerstan hat gewissermaßen exemplarisch an einem aus grüner Sicht sehr geeigneten Thema durchgespielt, was gewachsenes grünes Gewicht in der Landespolitik bedeuten kann. Wenn Fegebank Erste Bürgermeisterin gewesen wäre, wäre die Polizei vermutlich nicht in den Wald eingerückt. Was würden CDU und FDP wohl unternehmen, falls Fegebank in so einem Fall an der Spitze einer Jamaika-Koalition stehen würde?
Kerstan jedenfalls hat für seine Behörde Fakten geschaffen. Er hat die schon fertige Senatsdrucksache, mit der ein Teil der Vollhöfner Weiden den Status eines Landschaftsschutzgebiets verlieren soll, erst einmal angehalten.