Hamburg. Der drei Monate alte Junge wog bei seinem Tod weniger als bei der Geburt. Vater und Mutter wird fahrlässige Tötung vorgeworfen.

Die Haut faltig, der kleine Körper ausgemergelt – es ist ein grauenhafter Vorfall, der erst jetzt bekannt geworden ist: In Schnelsen ist bereits vor anderthalb Jahren ein durch Mangelernährung extrem geschwächter, erst drei Monate alter Junge an einer Durchfallerkrankung gestorben. Das stark unterernährte Baby erkrankte an einer Dickdarmentzündung, litt unter Durchfall und Bauchschmerzen. Obwohl das Kind erkennbar untergewichtig war, gingen die Eltern mit dem Säugling, der Mohamed hieß, nicht zum Arzt.

Und genau dieses Versagen wirft die Hamburger Staatsanwaltschaft den Eltern vor und hat sie wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen angeklagt. Fahrlässig deshalb, weil das Leben des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können, wenn es denn rechtzeitig einem Kinderarzt vorgestellt worden wäre. Zumal sich der Junge in einem derart beklagenswerten Zustand befunden haben soll, dass auch medizinische Laien die Notwendigkeit eines sofortigen ärztlichen Eingreifens problemlos erkennen konnten. Nach Abendblatt-Informationen hatte die Mutter gegenüber den Behörden angegeben, das Baby immer gestillt zu haben. Warum der Junge trotzdem so dramatisch abmagerte, ist noch nicht bekannt - etwa ob er zuvor an einer gerade für männliche Säuglinge in diesem Alter nicht untypischen Kolik litt.

Am 13. November 2017 verstarb Mohamed – an Kreislaufversagen. Marina P, die 32 Jahre alte Mutter des Babys, und der Vater Said Z. (34) müssen sich vom kommenden Donnerstag an vor Amtsrichterin Monika Schorn verantworten. „Sie stellten das Baby nach dessen Geburt im August 2017 bis zu seinem Tod am 13. November 2017 keinem Kinderarzt vor, obwohl es chronisch mangelernährt und stark untergewichtig war“, sagte Staatsanwältin Liddy Oechtering. Die Mutter und der Vater nahmen mit Mohamed demnach auch an keiner Vorsorge-Untersuchung teil.

Baby wog weniger als bei Geburt

Erschreckend: Der kleine Junge wog bei seinem Tod weniger als bei seiner Geburt. Als das Kind zur Welt kam, zeigte die Waage 2850 Gramm an. Als Mohamed starb, wog er nur noch 2823 Gramm. Weil ihr Kind sich am 13. November 2017 nicht mehr regte, riefen die Eltern laut Staatsanwaltschaft selbst den Notarzt an, doch der konnte nur noch den Tod des Jungen feststellen. Wegen des auffälligen Untergewichts informierte der Mediziner die Polizei.

Das verstorbene Baby war nicht das erste Kind des Paares. Die beiden hatten bereits fünf Kinder. Wo die Geschwister derzeit leben, dazu konnte die Staatsanwaltschaft keine Angaben machen. Der Vater sei bislang polizeilich nicht in Erscheinung getreten, sagte Staatsanwältin Oechtering. Die Mutter ist in der Vergangenheit wegen Diebstahlsdelikten aufgefallen.

In welcher Weise sich das Jugendamt um die Familie gekümmert hat, ist noch nicht klar. Fest steht nur, dass das Amt mit der Familie zu tun hatte. Auf Abendblatt-Anfrage sagte Gerichtssprecher Kai Wantzen, in dem Prozess solle eine Jugendamtsmitarbeiterin als Zeugin gehört werden. Das Amtsgericht hoffe so Erkenntnisse über die familiären Verhältnisse und die Entwicklung des Kindes im fraglichen Zeitraum zu gewinnen.

Der drei Monate alte Junge aus Schnelsen ist nicht das erste Kind, das in Hamburg durch Gewalt oder Fahrlässigkeit gestorben ist. In den vergangenen Jahren sorgten immer wieder dramatische Fälle von Misshandlungen und Vernachlässigungen für Schlagzeilen. Jessica, Lara Mia, Chantal, Yagmur, Jamie-Dean, Tayler, Nele, Ayesha, Mariam – die Namen der totgeschüttelten, ermordeten oder schwer misshandelten Kinder stehen nicht nur für ein Versagen der Eltern, sondern mitunter auch für das Versagen einer oder mehrerer Hamburger Behörden.

2005 starb Jessica in Jenfeld

Am 1. März 2005 entdeckten Notärzte die Leiche der siebenjährigen Jessica in einer Wohnung in Jenfeld. Das Mädchen wog nur noch 9,6 Kilo – so viel wie ein einjähriges Kind. Jessica war von ihren Eltern, Marlies S. und Burkhard M., in einer Hochhaussiedlung wie eine Gefangene gehalten worden. Sie sollen Stromkabel im Kinderzimmer so in­stalliert haben, dass Jessica durch die Berührung damit gestorben wäre. Das Mädchen aß Teppichreste und die eigenen Haare, es erstickte an seinem Erbrochenen. Jessicas Eltern wurden zu lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt, ohne Chance auf Haftentlassung nach 15 Jahren. Als Reaktion auf den Fall gründete die Politik einen Sonderausschuss und verschärfte die Kon­trollen von Eltern.

2009 starb Lara Mia in Wilhelmsburg an Hunger

Im März 2009 starb die erst neun Monate alte Lara Mia in Wilhelmsburg an Hunger. Sie habe ein „greisenhaftes“ Gesicht gehabt und ausgesehen „wie ein Kind aus Afrika“, sagten geschockte Polizisten beim Prozess vor dem Hamburger Landgericht. Der Körper des Babys war noch so klein und dünn, dass er in Windeln für Neugeborene gepasst habe.

Die damals 19 Jahre alte Mutter des Kindes gab zunächst an, die schleichende Abmagerung nicht bemerkt zu haben. Die Justiz sah dagegen eine eindeutige Fahrlässigkeit der Eltern. Das Landgericht verurteilte die Mutter zu drei Jahren Jugendhaft. Auch die Familienhelferin, die Lara Mia nur eine Woche vor ihrem Tod gesehen hatte, musste sich vor Gericht verantworten.

2012 starb Chantal an Methadon-Vergiftung

Im Januar 2012 starb die elfjährige Chantal an einer Methadon-Vergiftung. Das Kind lebte bei drogensüchtigen Pflegeeltern und nahm den Heroinersatzstoff aus Versehen ein, als sie nach einem Medikament gegen Erbrechen suchte. Die Pflegeeltern wurden vom Hamburger Landgericht im Februar 2015 wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt.

2013 wurde Yagmur totgeprügelt

Im Dezember 2013 erlag die drei Jahre alte Yagmur aus Mümmelmannsberg ihren inneren Verletzungen. Sie war über Monate von ihrer Mutter körperlich misshandelt worden, ihr Körper wies mehr als 70 Hämatome und andere Verletzungen auf. Im November 2014 wurde die 27 Jahre alte Mutter Malek Y. wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt – der Vater erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren wegen Unterlassung.

Die Familie stand seit der Geburt von Yagmur in der Betreuung mehrerer Jugendämter. Der Fall wurde in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet und die Jugendhilfe grundlegend reformiert.

2015 schlug Vater seinen Sohn taub und blind

Ende April 2015 kam der drei Monate alte Jamie-Dean in Finkenwerder durch Gewalteinwirkung fast zu Tode. Der 27-jährige Vater soll das Kind mehrfach mit dem Handballen gegen den Kopf geschlagen haben. Die Eltern sind polizeibekannt und betranken sich regelmäßig. Ihr Sohn wird nach den Prognosen der Ärzte taub und blind bleiben, er hat eine Lebenserwartung von wenigen Jahren. Der Vater wurde zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt.

2015 starb Tayler nach Schüttelattacke

Ende 2015 misshandelte der Stiefvater den 13 Monate alten Tayler so massiv, dass der Junge eine Woche später an den Folgen der Verletzungen verstarb. Er hatte das Kleinkind kräftig geschüttelt und dabei den Kopf des Jungen gewaltsam mindestens zehn bis 15-mal vor- und zurückgeschleudert. Ein Jahr später wurde Taylers Stiefvater zu elf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sprach damals von einem "Gewaltausbruch gegen ein wehrloses Kleinkind".

2017 misshandelte Vater die kleine Nele

Im Oktober 2017 erlitt die fünf Wochen alte Nele durch die Hand ihres eigenen Vaters irreversible Hirnschäden. Sie wird nie sprechen, nie hören, nie richtig sehen können. Sie wird schwerstbehindert bleiben, weil ihr Vater sie schüttelte. Mehr als zehnmal muss Neles Köpfchen vor- und zurückgeschleudert sein, fanden Rechtsmediziner heraus. Ende 2018 wurde der Vater zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

2017 ermordete Vater seine Tochter Ayesha

Ende Oktober 2017 hatte Sohail A. seine zwei Jahre alte Tochter getötet, indem er ihr mit einem Küchenmesser fast den Kopf abtrennte. Die Mutter von Ayesha war dabei, als Polizisten ihre tote Tochter in der Wohnung in Neugraben-Fischbek entdeckten.

Im Juni 2018 wurde der 34-jährige Vater für die grausame Tat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit besonderer Schuldschwere verurteilt. Nach Überzeugung des Gerichts wollte der abgelehnte Asylbewerber aus Pakistan mit dem Mord an dem kleinen Mädchen vor allem Rache an seiner Frau nehmen. Denn sie habe sich seinem Willen nicht beugen wollen.

2019 erlitt Säugling lebensgefährliche Verletzungen

Im Februar 2019 nahm die Mordkommission einen Mann fest, der seinen fünf Wochen alten Säugling verletzt und in Lebensgefahr gebracht haben soll. Der 19-Jährige steht in Verdacht, seinem Sohn in offenbar zwei Fällen Verletzungen zugefügt zu haben. Zu den Taten soll es zwischen Weihnachten 2018 und Mitte Januar 2019 gekommen sein. Der 19-Jährige muss sich nun wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen sowie wegen gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung eines Schutzbefohlenen verantworten.