Hamburg. Die Handschrift von Alan Gilbert, der sein Amt als Chefdirigent antritt, ist unübersehbar. Stars wie Yuja Wang und Vilde Frang kommen.
Erstaunliche Zeiten erlebt die Hamburger Klassikszene. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass ein Veranstalter seine Abonnementszahlen von sich aus beschränken würde? Abonnenten sind doch gleichsam die Lebensversicherung einer Branche, die vor der angeblichen Strukturkrise oft genug hockt wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Aber wenn die Zeiten sich ändern, muss man mitgehen.
Das hat man inzwischen auch beim NDR Elbphilharmonie Orchester gemerkt und die Abonnementszahlen auf 50 Prozent des Angebots gedeckelt. Ein Zeichen des Wandels beim Residenzorchester, nachdem es in der ersten Zeit nach der Eröffnung der Elbphilharmonie gelegentlich den Eindruck machte, eher Spielball als Gestalter der Verhältnisse zu sein.
Zur kommenden Saison, nach einem Jahr ohne Chefdirigenten, übernimmt Alan Gilbert diesen Posten. Sollte jemand nach Gilberts Zeit als Gastdirigent, in denen sich seine Programme nicht primär durch Originalität auszeichneten, Mainstream und Gediegenes erwartet haben, dann hätte er sich bei der gestrigen Saisonvorstellung die Augen gerieben. Wo noch bis vor Kurzem das gängige Muster Ouvertüre – Solokonzert – Sinfonie mit Schwerpunkt in der Romantik das Bild beherrschte, fasst der neue Chef sein Credo mit seinem Antrittsfestival in sechs Programmen so bündig wie prägnant zusammen. „Klingt nach Gilbert“ ist es überschrieben, worüber der frisch Inthronisierte scherzte, der Dirigent klinge hoffentlich nicht selbst.
Opening Night in der Elbphilharmonie mit Strahlkraft
Die Opening Night bekommt die Opulenz zurück, von der ihr jüngst ein wenig abhandengekommen war; zusätzliche Strahlkraft verleiht ihr die Tatsache, dass sich die Elbphilharmonie selbst dieses Mal einer eigenen Saisoneröffnung enthält, wie Generalintendant Christoph Lieben-Seutter sagte. Das Programm spannt sich von Brahms’ Erster bis zur Uraufführung eines Stücks der Koreanerin Unsuk Chin.
Sie ist in der kommenden Saison Composer in Residence des Orchesters. Mit drei Werken des 20. Jahrhunderts, darunter das monumentale „Amériques“ von Edgar Varèse, macht der Abend die gründliche programmatische Neuausrichtung der gesamten Saison deutlich: Die Hälfte der Werke stammen dem Leiter von NDR Orchester, Chor und Konzerten Achim Dobschall zufolge aus den letzten 100 Jahren.
Mit Magnus Lindbergs „Kraft“ für Solo-Ensemble, Live-Elektronik und Orchester nutzen die Künstler die Möglichkeiten der Elbphilharmonie aus. „Kraft“ muss man live sehen und hören. Es erkundet das Umfeld seiner Aufführung; so sollen Schlaginstrumente auf Schrottplätzen aus der Gegend gesammelt werden. Dagegen nehmen sich die beiden Klavierkonzerte von Schostakowitsch mit der Solistin Yuja Wang beinahe brav aus.
Gilbert dirigiert 35 Konzerte
Gilbert und das Orchester machen aber auch einen Ausflug und erweisen der Laeiszhalle mit Haydn-Sinfonien die Ehre. Für die beiden Streichsextette von Brahms greift der Chef zur Bratsche: „Es ist wichtig für mich, mit den Musikern zu spielen. Auch darum geht es bei dem Motto ,Klingt nach Gilbert’.“ Zum Beethoven-Jahr trägt das Orchester drei Projekte bei, bei denen Beethoven auf heutige Komponisten trifft. Den Anfang machen Enno Poppe und Jörg Widmann. Und schließlich nimmt Gilbert an einem neuen Gesprächsformat über musikalische und kulturpolitische Themen teil.
Gilbert dirigiert die stattliche Zahl von 35 Konzerten, darunter die Eröffnung des Internationalen Musikfests 2020. Die verbleibenden 31 Konzerte bestreiten Gastdirigenten, darunter wohlbekannte von Krzysztof Urbanski bis Herbert Blomstedt – und als „Conductor Fellow“ der junge Petr Popelka. Das Programm veranstaltet einen wahren Geigen-Reigen mit fast allem, was in der Zunft Rang und Namen hat, von Vilde Frang bis Frank Peter Zimmermann. Augustin Hadelich, in Amerika ein Star und hierzulande kaum bekannt, ist für drei Jahre „Associate Artist“. Die „Konzerte für Hamburg“ gehen weiter, die Orchesterakademie und das Education-Programm „NDR Discover Music!“
"Unkomplizierter Umgang" zwischen Gilbert und Orchester
Und wie geht es dem Orchester? Der Bratscher und Orchestervorstand Torsten Frank schwärmte geradezu vom unkomplizierten Umgang zwischen Gilbert und den Musikern und dessen dirigentischen Fähigkeiten: „Mit seiner erstklassigen Schlagtechnik, mit seiner Gabe, den Fluss der Musik anzuzeigen, erreicht er, dass wir Momente kreieren können, ohne viel darüber gesprochen zu haben.“ Wahrlich kein Schelm, wer da eine diskrete Spitze in Richtung Thomas Hengelbrock heraushörte. Gilberts Vorgänger hatte den Chefposten im vergangenen Sommer vorzeitig und nicht gerade im allseitigen Einvernehmen geräumt.
Nichts als die rosarote Brille Jungvermählter? Neue Besen kehren gut? Bei Gilbert liegt der Fall ein wenig anders, rund zehn Jahre ist er schließlich schon Erster Gastdirigent des Orchesters gewesen. „Jedes Konzert sollte immer wieder einzigartig gut sein. Aber wirklich schwer ist es, diesen Anspruch kontinuierlich aufrecht zu halten“, sagte Gilbert dazu. Er habe seine Engagements beim NDR Elbphilharmonie Orchester daher vor einigen Jahren bewusst reduziert. „Das war keine Strategie, um Chefdirigent zu werden – glücklicherweise hat es jetzt dazu geführt. Ich froh über diesen Neustart.“