Hamburg. Heute vor zwei Jahren wurde sie eröffnet. Seitdem hat sich bewahrheitet, was erhofft, aber oft belächelt wurde: Klassik wirkt.

Was sich bei der Elbphilharmonie geändert hat seit dem 11. Januar 2017? Es gibt Karten. Längst nicht immer, hin und wieder kurzfristig, nie für jeden gewünschten Platz und auch nicht für jeden Termin. Glück haben muss man ebenfalls. Trotzdem: Das Hineinkommen ist nicht mehr so unmöglich, wie es war, als dieser Wahnsinn begann, der Hamburg in eine Musikstadt verwandeln sollte. So falsch lag Generalintendant Christoph Lieben-Seutter also nicht, als er kurz nach der Eröffnung orakelte, das erste nicht ausverkaufte Konzert im Großen Saal würde man im Frühjahr 2019 erleben. Doch Alltag, Routine und Langeweile sind nach wie vor in weiter Ferne.

Vieles kam in Bewegung; es hat sich viel getan, oder eher: entwickelt. Anderes ist auf bestem Weg zur klassischen Hamburgensie. Denn täglich grüßt die Elbphilharmonie. Die Bilder vor ihr ähneln sich, egal welches Wetter, welche Tageszeit. Das größte, teuerste, aberwitzigste, spektakulärste Spektakel der HafenCity, ach was – der Stadt steht dort, alles überragend. Die typischsten Gesten im Großen Saal: Smartphone zücken, Fotos, am besten einen Panorama-Schwenk. Das steigert den Neidfaktor im Rest der Welt. Der Rest der Musik-Welt – zumindest jener Teil, der keine Stadien und Mehrzweckhallen beschallt – hat mittlerweile erkannt, dass an der
Adresse „Platz der Deutschen Einheit 1, 20457 Hamburg“ kein Tournee-Weg mehr vorbeiführen sollte.

Die meisten der größten Orchester haben sich inzwischen eigene Eindrücke in der Elbphilharmonie verschafft, etliche Stardirigenten, viele Virtuosen, manche schon mehrmals. Auch aus anderen Genres kamen prominente Vertreterinnen und Vertreter: Teil der Gebäude-DNA wurde der Auftritt der Einstürzenden Neubauten kurz nach der Eröffnung. Jazzer wie Brad Mehldau oder Branford Marsalis legten los. Das Elbjazz-Festival wurde Untermieter. Spezialisten für Alte Musik präsentierten historisch informierte Kunst. Experten für Avantgarde öffneten Ohren für andere Klänge der Gegenwart, ebenso etliche Weltmusik-Konzerte, sogar die Indie-Rock-Superstars The National trat auf.

Übereifrige Nachwuchs-Pianisten

Besonders niedlich: Übereifrige Nachwuchs-Pianisten ließen sich umjubelte Elbphilharmonie-Debütkonzerte in ihre CD-Booklets hineindichten, noch bevor die Konzerte überhaupt stattgefunden hatten. Und wegen des riesigen Andrangs wird, anders als in normaleren Konzerthäusern, auch keine Sommerpause gemacht, eher ein Päuschen, unterbrochen vom stilistisch bunten Sommerbespielungs-Sortiment. Ebenfalls etabliert haben sich die Übertragungen auf die Open-Air-Leinwand auf dem Vorplatz, hin und wieder stellt die Elbphilharmonie ihre Live-Inhalte als trostpflasternden Stream ins Internet.

Sehr viel Beglückendes also, alles in allem. Das Schönste daran ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Besuchermengen über gerade jenes Repertoire freuen, das andernorts als übles Kassengift gemieden wird. Hier wird es oft das ganz besondere Ereignis. George Benjamins „Written on Skin“ oder Berio oder Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“? Keine Skepsis, aber viel Applaus. Was nur beweist, dass Dünkel
und Vorurteile über den Härtegrad dieser Musiken hinfällig werden, wenn sie auf Publikum mit unverstelltem Blick treffen.

Für alle Veranstalter mit Elbphilharmonie-Konzert im Angebot hat sich 2018 so entwickelt, wie 2017 es versprach: bestens. Finanziell sowieso, denn bei Ausverkauft-Garantie wird jedes Konzert zum lohnenden Vergnügen. Alle Anbieter versuchen, ihre Möglichkeiten bis zum Anschlag auszureizen. Seit der NDR das Residenzorchester der Elbphilharmonie stellt, wurden neue Konzertreihen aufgelegt und andere erweitert. Dort hält Krzysztof Urbański als Erster Gastdirigent die Stellung, bis Alan Gilbert im Herbst als Chefdirigent antritt.

Für Profil und Aufmerksamkeit sorgen

Die Philharmoniker unter Generalmusikdirektor Kent Nagano sind ähnlich konsequent präsent, auch sie haben sich mit ihren Abo-Konzerten aus der Laeisz­halle verabschiedet. Im nach wie vor guten alten Saal am Brahms-Platz sollen und wollen vor allem die Symphoniker Hamburg für Profil und Aufmerksamkeit sorgen, als Nachfolger für den 2017 verstorbenen Jeffrey Tate wurde Sylvain Cambreling gefunden. Das Ensemble Resonanz hat sein Standbein im eigenen Resonanzraum, im Medienbunker an der Feldstraße, und sein Spielbein als Residenzensemble im Kleinen Saal der Elbphilharmonie.

Der Große Saal, die Herzkammer des
Gebäudes.
Der Große Saal, die Herzkammer des Gebäudes. © Getty Images

Das Angebot der Pro-Arte-Konzerte ist deutlich größer und deutlich abwechslungsreicher als in früheren Jahrzehnten. Der Fluch der guten Tat hat allerdings vor allem die Betreiber von Elbphilharmonie und Laeiszhalle selbst getroffen. Wegen der enormen Nachfrage müssen der Generalintendant und sein rasant aufgestocktes Team etwa ein Drittel Konzerte mehr stemmen, als es ursprünglich Plan gewesen war. Das heißt: Dem neuen Haus geht es jetzt wie der Laeiszhalle, als sie noch allein auf weiter Flur war – Dauerbetrieb, hart an der Kante des Machbaren entlang.

Einige der neuen Musikstadt-Symptome waren in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig zu beobachten: kollabierende Server, sobald frische Karten online zu haben waren. Lange Schlangen an Vorverkaufsstellen. Für die Abonnements der Spielzeit 2017/18 hatte die Elbphilharmonie eine Lotterie eingeführt, inzwischen wird bei größeren Vorverkaufsstarts gestaffelt: zuerst die Hamburger Kundschaft an lokalen Kartenkassen, einige Stunden später der Rest der Welt online. Die Sitzplätze eines Abos sind zu Erbhöfen geworden. Wer ein Abo hat, wird es so schnell wohl nicht wieder hergeben. Als das NDR Elbphilharmonie Orchester im Mai 2018 Nachschub ankündigte, bewarben sich 15.000 Interessierte für die 150 Plätze: 100 Kandidaten pro Abo. So verkehrt lag der Generalintendant also nicht, als er einmal im Halbspaß meinte: „Wir könnten auf Kämmen spielende Putzfrauen präsentieren, und der Saal wäre voll.“

Musik ist zum Wohlfühlmotor geworden

Im Jahr zwei mit Elbphilharmonie werden die Programm-Leitplanken sichtbarer, die der aus Wien gekommene Intendant, der im Oktober 2018 seinen Vertrag vorzeitig bis 2024 verlängerte, seit Jahren einzuziehen pflegt: Thematische Schwerpunkte neben dem Vielerlei der eigenen und der anderen Abo-Reihen, Festivals wie „Lux aeterna“, das Musikfest und die „Greatest Hits“, dazu „Artist in Residence“-Mehrfachbuchungen für Einzelkünstler. Wer warum mit welchem Programm konkret wie viel Publikum anzieht? An dieser Stelle hat Lieben-Seutter nach wie vor das Luxus-Problem, diese Gründe nur ahnen zu können. Denn gekauft werden nach wie vor so ziemlich alle Karten für alles und jeden. Einzig beim Tempo des Ausverkaufens gibt es inzwischen Abstufungen.

Erinnern wir uns: Jahrelang war Hamburg wegen seiner Elbphilharmonie-Baustelle ausgelacht worden. Übereuphorisches Drauflosbauen, als noch gar nicht alles durchgeplant war. Kostenexplosionen, Kompetenzschlachten, Tiefschläge, Verzögerungen und andere international registrierte Peinlichkeiten. Dann aber, nach der entscheidenden Vertragsneuordnung und einem letzten Riesensack Geld aus dem Rathaus: Happy End! „Freue Dich, Hamburg!“, verordnete der damalige Bundespräsident Gauck. Genau so kam es dann ja auch. Die Stadt will nun nicht nur noch energischer als zuvor Musikstadt sein, sie will insgesamt kulturmetropoliger werden. Konkurrenz soll das hiesige Geschäft mit dem Wahren, Schönen, Guten beleben. Museen und Theater kamen deswegen ebenso in kreativen Zugzwang wie die Kulturpolitik selbst, die sich nach wie vor nicht vorwerfen lassen möchte, das ohnehin zu knappe Spielgeld der nächsten Jahre schon komplett für diesen einen Neubau verbraten zu haben.

Neben dem andauernden Ausnahmezustand der vielen regulären Konzerte erlebte das Konzerthaus aber auch den einen oder anderen extraspeziellen Termin: Ganz oben auf der Richterskala realpolitischer Erschütterungen war das G20-Konzert am 7. Juli 2017, als etliche Staatschefs mit Beethovens Neunter an geistige Werte und Moral erinnert wurden, während rund ums Schanzenviertel nicht nur die Luft brannte. Kent Naganos Beethoven-Taktstock erhielt Bundeskanzlerin Angela Merkel als Amtsabschieds-Geschenk beim CDU-Parteitag im Dezember 2018 in Hamburg. Fünf Monate nach G20 wurde es glamourös, als Karl Lagerfeld die Terrassen des Großen Saal zum Laufsteg ummodeln ließ.

Noch eine Rückblende: Als am 11. Januar 2017 das erste der zwei Eröffnungskonzerte begann, begann auch eine neue Hamburger Zeitrechnung. Die mit Elbphilharmonie statt ohne. Bilder gingen tagelang um die Welt, Hunderte Journalisten schrieben, filmten, fotografierten, sendeten. Die „Washington Post“ staunte: „Eine neue Konzerthalle verändert die Stadt.“ Schuld an dieser Charakterveränderung der Kaufmannsmetropole ist, obwohl viele das nach wie vor kaum glauben mögen: Kultur, ausgerechnet. Musik. Klassische Musik, kein Witz, jenes vermeintlich gestrige, elitäre Hochkultur-Genre. Es gibt den Hafen als Wirtschaftsfaktor. Doch die Musik ist zum Wohlfühlmotor geworden.

Ja, es gab Debatten über Begleiterscheinungen; die Frage, ob, wann und wie sehr man in Konzerten klatschen darf oder sollte oder unbedingt nicht, wurde durch die Praxis beantwortet. Wenn Szenenapplaus passiert, wo manche ihn nicht erwarten, passiert er eben. Und geht dann auch vorbei. Umso anrührender und ergreifender sind die endlosen Momente der atemlosen Stille, diese 2,2 Sekunden Nachklang eines Schlussakkords, bevor die Wirklichkeit zurückkehrt in den Großen Saal.

Leuchtturmprojekt erhellt auch andere

Knapp zwei Jahre nach dem ersten Ton vor begeistertem Gala-Publikum darf man wohl hinzufügen: Das Rathaus sollte demnächst neue Visitenkarten in Auftrag geben, mit dem Aggregatzustand „Freie und Musikstadt Hamburg“. Nicht als Ansage einer schon vollendeten Tatsache, denn dieser Prozess lässt sich nicht per Erlass oder messbar beenden. Als freudebringende Herausforderung ans eigene Ego. Die Zahlen sind eindeutig: Bis Januar 2015 haben rund 8,5 Millionen Menschen die Plaza besucht. In den Konzerten waren etwa 1,76 Millionen Menschen gewesen. In zwei Jahren fanden 778 Konzerte im Großen und 504 Konzerte im Kleinen Saal statt.

Langfristig wichtig und mehr und mehr richtig ist ein Vorsatz, der sich in der Handelskammer-Studie von 2014 über die „Musikstadt Hamburg“ nachlesen lässt: „Unsere Vision für 2025 ist, unsere Stadt für Fachleute, den internationalen wie nationalen Tourismus sowie für die eigene Bevölkerung als Deutschlands Musikstadt Nummer eins erlebbar zu machen.“ Das Fazit: „Dieses Ziel ist ehrgeizig, aber nicht unrealistisch.“

„Konzertsäle sind lebendige Orte“

Das Licht des Leuchtturmprojekts erhellt inzwischen auch andere: Es dürfte kein Zufall sein, dass der Bund im Juni 2018 für den Ausbau des Reeperbahn Festivals fast 28 Millionen Euro ankündigte, auf fünf Jahre verteilt. Das liebevoll-bemühte KomponistenQuartier in der Peterstraße wurde um einige Gedenkstätten erweitert und bekam den nötigen Modernisierungsschub. Im Mai soll die Deichtorhallen-Ausstellung „Hyper! A Journey into Art and Music“ Querverbindungen aufzeigen, Elbphilharmonie-Konzerte liefern den Pop-Soundtrack dazu. Dieser Art Brückenschlag gehört die Zukunft einer echten und wegweisenden Musikstadt.

Es war also keine Zukunftsmusik, als Sir Simon Rattle im Mai 2017 nach seinem Elbphilharmonie-Debüt zur Bedeutung dieses Gebäudes für den Umgang mit Kultur erklärte: „Konzertsäle sind keine Museen für frühere Kulturen. Sie sind lebendige Orte, eingebettet in unserer Gesellschaft. Für Hamburg als Stadt kann das nur gut sein. In fünf Jahren wird Hamburg ohne die Elbphilharmonie unvorstellbar sein.“ Die ersten zwei sind geschafft. Es dürfte nun noch spannender werden.

Das Hamburger Abendblatt präsentiert in einem hochwertigen Magazin auf 84 Seiten reich bebildert die ganze Geschichte der Elbphilharmonie. Wenige Exemplare sind noch in der Abendblatt-Geschäftsstelle für 8 Euro (Treuepreis 6 Euro) sowie über abendblatt.de/magazine erhältlich.