Hamburg. Sie ist katholisch und tief gläubig, Messdienerin wurde sie aber eher aus Prinzip. Ursprünglich wollte sie Krankenschwester werden.
Dritte Reihe links, dort saß Melanie Leonhard als Schulkind immer. Nachdenklich schaut die Hamburger Sozialsenatorin auf die Holzbank in ihrer ersten Gemeindekirche St. Bonifatius in Wilhelmsburg. Erinnerungen überfluten sie. In der schlichten neuromanischen Backsteinkirche wurde die 41-Jährige getauft und erhielt sie die Kommunion, direkt gegenüber ging sie in die katholische Grundschule. „Ich war hier in zahlreichen Messen und oft zu Weihnachten mit der ganzen Familie“, sagt Leonhard.
Ihre Eltern kamen ursprünglich aus RheinlandPfalz, der katholische Glaube und die Erziehung in diesem Sinne gehörten zum Grundgerüst des Lebens. Noch heute hält Melanie Leonhard ab und zu Zwiesprache mit Gott. „ Ich brauche die Rituale der Messe. Sie geben mir Halt, und wenn ich danach aus der Kirche komme, geht es mir immer besser.“ In den späten 80ern zog die Familie nach Harburg und wechselte zur Gemeinde St. Maria.
Dort wurde Leonhard gefirmt, dort hat sie geheiratet und ihren Sohn taufen lassen. „Und ich war dort auch Messdienerin, und zwar nicht nur aus spirituellen Gründen, sondern auch aus Prinzip“, sagt Leonhard lachend. Es scheint, als sei ihr Engagement für Gleichberechtigung in St. Maria geboren worden. Schon als Achtjährige empfand sie es als zutiefst ungerecht, dass es in der Nachbargemeinde Messdienerinnen gab und bei ihr nicht.
Arbeiterkind aus Harburg
Sie sprach den Pfarrer immer wieder darauf an, nervte ihn, und als sie eigentlich zu alt für das Amt war, wurden Mädchen aus der Gemeinde endlich zugelassen, „da konnte ich schlecht Nein sagen“. Ihre Kindheit bezeichnet sie als unspektakulär, der Vater war Arbeiter in einem Mineralölunternehmen, die Mutter Angestellte. Ihren ersten Urlaub im Ausland, in Schweden, hat sie mit 15 Jahren mit den Pfadfindern gemacht.
Sie war die Erste in der Familie mit Abitur, und immer wieder ist ihre Herkunft als Arbeiterkind aus Harburg ein Thema. Es scheint ein wenig ihr Lebensmotto zu sein, zu beweisen, dass Mädchen, egal woher sie kommen, alles schaffen können. Denn oft, auch in ihren Reden, betont sie, „dass man mir sagte, was ich alles nicht kann, weil ich aus Harburg bin“. Der Lebensweg mit Geschichtsstudium, Promotion und der anschließenden steilen politischen Karriere war ihr jedenfalls nicht in den Wiege gelegt worden. „Hätte mir das jemand nach dem Abi gesagt, hätte ich ihn für verrückt erklärt.“
Im Gegenteil, eigentlich wollte sie am liebsten Krankenschwester werden. Sie hatte schon einen Ausbildungsvertrag in Aussicht für das Hafenkrankenhaus, doch das machte 1997 zu und mit ihm auch die Schwesternschule. Also ging sie stattdessen an die Uni und arbeitete nebenbei in zwei Jobs, als Kellnerin und Pflegekraft, um über die Runden zu kommen.
Leonhard kennt die Situation von Migranten
Melanie Leonhard weiß also aus eigener Erfahrung genau, wie Familien manchmal um jeden Cent kämpfen müssen, sie kennt Vorurteile, die Situation von Migranten und heruntergekommene Stadtviertel – und dennoch war es nicht ihr Ziel, sich in der Sozialpolitik zu engagieren, als sie 1999 in die SPD im Bezirk Harburg eintrat. Stadtentwicklung, Planung und Schifffahrt – das waren ihre Themen als Historikerin. Doch dann starb die Vorsitzende des Jugendhilfe-Ausschusses in Harburg.
Die Nachfolgerin musste schnell gefunden werden. „Ich bin überraschend und ohne eine Expertin zu sein in den Ausschuss gekommen. Also habe ich mich fortgebildet, dann hatte ich das Thema drauf“, sagt sie. Und gerade als sie beschlossen hatte, sich mehr auf ihre berufliche Karriere als wissenschaftliche Mitarbeiterin einer Reederei zu konzentrieren, musste die SPD Harburg einen Platz für die Landesliste besetzen. „ Man fragte mich. Das fand ich gut und dachte, dass ich mich dann in der Bürgerschaft endlich um die Stadtentwicklung kümmern kann.“
Doch es kam wieder anders – als eine familienpolitische Sprecherin als Nachfolgerin für Carola Veit gesucht wurde, kam offenbar nur Leonhard infrage, ein ähnliches Spiel dann 2015 bei der Suche nach einer Sozialsenatorin. Das war kurz nach der Geburt ihres Sohnes, „ ein Zeitpunkt, an dem ich eigentlich kürzertreten wollte“. Doch Leonhard ist auch ehrgeizig, sie wird gern gerufen und nahm das Amt an – immer in Absprache mit ihrem Mann, den sie schon seit Unizeiten kennt und mit dem sie sich die Elternzeit teilte.
Emanzipierte Ehe
Die beiden führen eine emanzipierte Ehe. „Er hat sich beruflich eingeschränkt, ohne ihn ging dieses Leben nicht. Man muss dann auch die eigenen Grenzen und die der Familie kennen“, sagt sie und meint damit den Ruf als Bürgermeisterin, der ihr nach Olaf Scholz’ Weggang entgegenschallte. Sie würde gern mehr Zeit mit ihrem Sohn verbringen; ein guter Tag ist, wenn sie mal vor 20 Uhr zu Hause ist und ihn noch wach erlebt. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht bloß eine Frage der Kalenderführung. Ein schlechtes Gewissen kann man nicht wegorganisieren.
Das kennt jede Mutter.“ Sie ist sehr gern Sozialsenatorin, auch wenn die Aufgaben des Amtes nicht leicht sind. Seit Beginn ihrer Amtszeit 2015 mussten Tausende Geflüchtete untergebracht werden, zwei Kinder sind trotz Jugendamtshilfe gestorben. Gerade diese Todesfälle gehen ihr nahe, nicht nur als Senatorin, sondern auch als Mutter eines kleinen Kindes. Es gebe immer wieder Tage, da liege sie nachts wach und hoffe, dass alles gut gehe in einer Familie oder bei einem Schicksal, über dessen Fall sie gerade entschieden habe. In diesen Momenten fühlt sie sich jedoch auch gehalten von Gott.
Ihr Lieblingsspruch ist aus Jesaja 40, 31: „Die aber auf den Herrn hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Flügel ...“ Sie erzählt, dass auf ihrem Schreibtisch Karten stehen, die sie sich in schwierigen Momenten gern anschaut. Eine ist von ihrem ehemaligen Schuldirektor. „Er schrieb mir, wie stolz er auf mich sei und dass er mir Gottes Segen wünsche.“ Auch taffe Sozialsenatorinnen brauchen offenbar kleine Seelenpflaster.