Hamburg. Die neue Hamburger SPD-Chefin Melanie Leonhard über ihre Schulzeit, das Umfragetief ihrer Partei und den künftigen Bürgermeister.

Melanie Leonhard (40) wollte eigentlich nie Berufspolitikerin werden – nun ist sie Sozialsenatorin und neue Vorsitzende der Hamburger SPD. Mit dem Abendblatt sprach die Historikerin über Aufstieg durch Bildung, die Wohnungspolitik und ihre Sicht auf den designierten Bürgermeister Peter Tschentscher.

Frau Leonhard, auf dem SPD-Parteitag am Sonnabend war der Jubel um Ihre Person so groß, dass der Eindruck entstand, viele Genossen hätten Sie auch gern als Bürgermeisterin gesehen.

Melanie Leonhard: Gefreut haben sich die Genossen darüber, dass ich Landesvorsitzende geworden bin. Es war demnach eine gute Entscheidung, dass ich mich um das Amt beworben habe.

Sie haben mit Blick auf Ihren Sohn darauf verzichtet, Bürgermeisterin zu werden. Jetzt übernehmen Sie zusätzlich zum Amt der Sozialsenatorin den Parteivorsitz. Ist das wirklich weniger Aufwand?

Leonhard: Es ging mir nicht um den Aufwand. Mein Sohn ist mit drei Jahren noch voll auf mich angewiesen, er kann noch nicht alleine irgendwo hingehen – soll ich ihn mit Personenschützern begleiten? Ich wollte Sozialsenatorin bleiben und Landesvorsitzende werden. Das ist für mich eine schlüssige Kombination.

Menschlich gesehen: Die SPD-Chefin

Parteiarbeit findet allerdings überwiegend abends statt und ist bei jungen Eltern entsprechend unbeliebt ...

Leonhard: Deshalb bin ich auch angetreten mit dem Vorhaben, daran etwas zu ändern. Wir haben viele junge Eltern in der Hamburger SPD, die politische Verantwortung tragen, in Regierungsämtern, in der Bürgerschaft und in Parteigremien. Deren Bedürfnisse müssen wir respektieren. Künftig wollen wir etwa bei Abendveranstaltungen die Zeiten einhalten, die wir uns vorgenommen haben, und wir wollen Wochenenden so gestalten, dass nicht immer beide Tage in Anspruch genommen werden.

Auch Andreas Dressel, der lange als Favorit auf die Scholz-Nachfolge galt, hat unter Verweis auf seine Familie mit drei Kindern auf das Bürgermeisteramt verzichtet. Hat Sie das überrascht?

Leonhard: Jeder durchläuft einen Meinungsbildungsprozess. Insofern hat mich das nicht überrascht.

Nun macht es mit Peter Tschentscher ein Dritter, was ihn womöglich beschädigt ins Amt bringt.

Leonhard: Peter Tschentscher ist ein guter Bürgermeisterkandidat. Dass er das Amt übernimmt, ist eine gute Antwort auf die Fragen in der Mitte der Gesellschaft. Er hat in seinem ersten Leben als Mediziner gearbeitet. Es fällt ihm leicht, auf Leute zuzugehen. Er ist Vater. Er hat auch Verständnis für die Bedürfnisse der Sozialbehörde, obwohl er Finanzsenator war. Das zeichnet ihn aus.

Sie haben auf dem Parteitag ihre Kindheit in Wilhelmsburg erwähnt und wurden dafür gefeiert. Sehnen sich Ihre Genossen nach einer Vorsitzenden, die die Sorgen und Nöte der „kleinen Leute“ kennt?

Leonhard: Die SPD ist eine sehr vielfältige Partei. Aber es gibt viele, die sich mehr Lebenswirklichkeit wünschen. Es ist das eine, wenn man selbst Abitur gemacht hat, die Eltern Lehrer sind, man in Ottensen wohnt – nur als Beispiel – und sagt, man muss mal etwas für bildungsferne Schichten tun. Das andere ist, derjenige zu sein, der aussortiert werden soll.

Wann sollten Sie aussortiert werden?

Leonhard: Ich habe meine Hauptschulempfehlung aufgehoben, als ständige Mahnung. Die Argumente waren nicht schön.

Nämlich?

Leonhard: Es hieß, ein höherer Abschluss lohne sich für mich nicht, eine Ausbildung sei doch auch ein guter Weg. Das war ziemlich deprimierend.

Und was war entscheidend dafür, dass es doch anders gekommen ist?

Leonhard: Es gab immer wieder Lehrer, die mich gefördert haben. Ich hatte etwa einen Realschullehrer, der meine Leidenschaft für Geschichte aufgenommen hat, obwohl das nicht Teil seines Unterrichts war. So konnte ich mein Potenzial so gut ausschöpfen, dass es doch Sinn machte, es auf dem Gymnasium zu versuchen.

Aufstieg durch Bildung – das lässt das Herz der Sozialdemokraten höherschlagen.

Leonhard: Es geht darum, dass alle Menschen gute Chancen und eine gute Lebensperspektive in dieser Stadt haben. Wenn jemand 40 Stunden arbeitet, Freude an seinem Garten hat, alle zwei Wochen zum HSV geht und sein Leben so gut findet, dann ist das in Ordnung. Das muss die SPD verinnerlichen: Wir sind nicht die Partei, die den Leuten sagt, wie sie leben sollen. Es geht um das echte Leben.

Die SPD hat in Hamburg 2015 mehr als 45 Prozent geholt, jetzt steht sie in Umfragen bei 28 Prozent. Wie wollen Sie das ändern?

Leonhard: Das Umfrageergebnis ist eine Momentaufnahme. Es hat etwa damit zu tun, dass es drei Wochen lang unklar war, ob wir einen Nachfolger für Olaf Scholz als Bürgermeister brauchen. Die Stadt Hamburg hat auch viele Konflikte aushalten müssen in den letzten Jahren. Die Umfragewerte haben aber wenig mit dem grundsätzlichen Zuspruch für unsere Politik zu tun. Die gleiche Umfrage hat ergeben, dass die Wohnungspolitik das wichtigste Thema für die Hamburger ist. Auch Themen wie Kita und Schule werden weiterhin eine große Rolle spielen. Hierzu haben wir gute Antworten. Damit kann man auch wieder große Mehrheiten erzielen.

Sie haben mal gesagt, die Grünen würden vor allem an ihre Klientel denken, die schon schicke Wohnungen hat. Würde die SPD ohne die Grünen mehr Wohnungen bauen?

Leonhard: Wenn ich in unsere Ortsvereine gehe, sind dort Wohnungsnöte viel unmittelbarer spürbar als in einem sehr hochschulnahen Umfeld, wo die Grünen viele Menschen erreichen. Ich bin etwa in Harburg schon von ehemaligen Klassenkameraden gefragt worden, ob sie noch eine Chance haben werden in ihrem Leben, in Hamburg ein Haus zu kaufen, oder ob sie ins Umland ausweichen müssen, wenn sie eine Familie gründen und ein Haus bauen wollen. Das sind unsere Themen, darauf muss die SPD antworten. Wenn es etwa um die Frage geht, ob in einem Stadtteil tatsächlich ein Drittel sozialer Wohnungsbau realisiert werden soll und es heißt, das passe besser in andere Gegenden, müssen wir diesen Konflikt aushalten. Das Ziel muss es allerdings sein, auch eine Akzeptanz für diese Politik zu finden bei denen, die nicht unmittelbar darauf angewiesen sind. Und da leisten SPD und Grüne gemeinsam einen Beitrag.

Sie unterstützen die Genossenschaft, die um die katholischen Schulen kämpft. Die Si­gnale aus dem Erzbistum machen wenig Hoffnung, oder?

Leonhard: Das stimmt leider. Ich unterstütze die Genossenschaft, weil ich ihre Ziele großartig finde und es ein einmaliger Vorgang ist, dass es so eine breit getragene Bewegung von katholischen Laien gibt, die sich gegen eine Entscheidung der Amtskirche positioniert. Ich bin in großer Sorge wegen der Äußerungen des Bistums, sich bis zum 12. April zu entscheiden und vorher keine Gespräche mehr zu führen. Man kann sich vorstellen, dass die Entscheidung schon steht und erst verkündet werden soll, wenn sie nicht mehr rückholbar ist.

Bislang hielt Olaf Scholz als Bürgermeister und Parteichef die Zügel fest in einer Hand. Jetzt wird die Macht wieder aufgeteilt. Ist das eher eine Chance oder ein Risiko?

Leonhard: Es bietet die große Chance, Willensbildungsprozesse innerhalb der Partei gut zu organisieren und damit dann die Senatspolitik zu verzahnen und zu prägen. Und es ist die Chance, über zwei unterschiedliche Personen auch unterschiedliche Sichtweisen zu transportieren.

Zu Scholz-Zeiten war sehr klar, wer in der Stadt das Sagen hat. Offensichtlich haben das viele Bürger geschätzt. Wie steht es mit dem Risiko, dass diese Klarheit fehlt?

Leonhard: Alles hat seine Zeit. Diese starke Führung war erforderlich, weil die SPD einige Jahre keinen guten Eindruck gemacht hatte. Davor hatten wird es 40 Jahre lang anders organisiert, das hat gut funktioniert. Und es wird auch künftig wieder funktionieren.

Die G-20-Krawalle sind in der Öffentlichkeit stark mit dem Namen Scholz verbunden. Die Grünen verlangen im Prinzip von der SPD das Eingeständnis, dass G 20 in Hamburg ein Fehler war. War es das?

Leonhard: Es gab eine Entscheidung im Bund, dass G 20 in Deutschland stattfinden soll, und man hat sich für Hamburg entschieden. Und man macht von dem Geschehenen nichts besser, wenn man sagt, dass es ein Fehler war, G 20 in Hamburg stattfinden zu lassen. Wir sollten uns entscheiden: Wollen wir internationale Willensbildungsprozesse auf diplomatischer Bühne ermöglichen? Dann werden auch künftig solche Gipfel stattfinden müssen. Oder wollen wir das nicht? Dann muss man das dem freien Spiel der Kräfte überlassen, und man sieht ja in etlichen Regionen der Welt, wie das ausgehen kann.

Um zum Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Können Sie sich denn grundsätzlich vorstellen, einmal Bürgermeisterin zu werden?

Leonhard: Bürgermeister von Hamburg zu werden, ist die größte Ehre, die einem im Leben angetragen werden kann. Ich bin Sozialsenatorin und Parteivorsitzende, und das bin ich gern.

Also nicht ausgeschlossen?

Leonhard: Ich habe ja mal ausgeschlossen, Berufspolitikerin zu werden – und Sie sehen, wohin das geführt hat ...