Journalisten? Alles Wegelagerer! Helmut Schmidt hatte eine feste Meinung zu den Medien. Den Abendblatt-Reporter ließ er ins Haus.
Es ist einer dieser Termine, deren wahren Wert man erst rückblickend einzuschätzen vermag. „Nehmen Sie Platz, junger Mann“, sagt Helmut Schmidt. Unter dezentem Fluchen hievt er sich vom Rollstuhl in einen braunen Rattansessel. Mit einladender Geste deutet der Staatsmann auf den Sitzplatz an seiner Seite. Auf dem Beistelltischchen mit Glasplatte stehen eine Thermoskanne, zwei Teetassen, Zucker, Milch, eine Porzellanschale mit Butterkeksen, eine weiße Kerze. Und ein Aschenbecher, na klar. Feuer frei. Im Nu glimmt die erste Reyno mit Mentholgeschmack. Der Rauch zieht in kleinen Kringeln aufwärts. Der Künstler hat Spaß daran.
Dass diese Szene auch siebeneinhalb Jahre später, zum 70. Geburtstag des Hamburger Abendblatts, einen unverändert prominenten Stellenwert im Gedächtnis einnimmt, hat mehrere Gründe. Erstens ist es gastfreundlich, einen seinerzeit 53 Jahre alten Journalisten, dessen Berufsgattung der Altkanzler gemeinhin als „Wegelagerer“ oder „Schwerverbrecher“ einstufte, als jungen Mann zu bezeichnen. Wahrscheinlich ist im Alter von 92 Jahren praktisch jeder andere ein Jungspund.
Was der Leibarzt dem Ex-Kanzler riet
Zweitens sind weder Cola light noch Kaffee in Sichtweite. Offensichtlich achtet der Hausherr auf den Ratschlag seines Leibarztes Heiner Greten. Der Professor hat indes nicht angeordnet, den Tabak aus der Hand zu legen. Mit über neun Jahrzehnten könnte eine radikale Umkehr der Lebensgewohnheiten die ansonsten stabile Gesundheit aus dem Gleichgewicht bringen. Außerdem hätten Verbote ja doch nichts genutzt.
Zum Dritten erstaunt die Bekleidung des rüstigen Witwers: salopper Freizeitpullover mit Reißverschluss, Trainingshose, Sportlatschen, so eine Art Adiletten. Wenn man in dem Alter in den eigenen vier Wänden nicht Klamotten seiner Wahl tragen darf, wann dann?
Helmut Schmidt gab sich herzlich und auskunftsfreudig
Und damit sind wir bei Punkt vier angelangt, der eigentlichen Überraschung an diesem prachtvollen Frühlingstag im Jahr 2011. Bei mehreren Treffen zuvor in Schmidts Verlegerbüro im Pressehaus der „Zeit“ in der Innenstadt hatte sich der bisweilen kauzige Sozialdemokrat als wider Erwarten herzlich, hilfsbereit und auskunftsfreudig präsentiert. „Altersmilde“ gab er auf Nachfrage als Ursache an. Dabei hatte „Schmidt Schnauze“, so der Kampfbegriff politischer Gegner aus der aktiven Politik, breit gegrinst, dem Gegenüber provozierend in die Augen geguckt – und still triumphierend am Filter gesaugt. Ein Bild für Götter war das.
Natürlich hätte Herr Schmidt (jede andere Anrede verbat er sich strikt!) unserer Zeitung anfangs nicht in eigener Sache stundenlang Rede und Antwort gestanden. Für das Buch „Ein Leben – Helmut und Hannelore Schmidt“ sah das ganz anders aus. Die Erinnerung an seine im Oktober 2010 verstorbene Ehefrau Loki in Ehren zu halten war sein Ziel. Und wahrscheinlich deswegen wich der hanseatische Dickschädel eines Tages urplötzlich von seinem sonst heiligen Prinzip ab. „Sie können gerne in den Neubergerweg kommen“, murmelte er zwischen zwei Zigarettenzügen.
En passant, aber garantiert geplant. Dabei entwaffnete er seinen Gesprächspartner erneut mit einem Blick, der schwer zu fassen war. Eine Melange aus Schalk, Chuzpe und Warmherzigkeit. Was für eine Aura hatte dieser Mann. Andere können ein Politikerleben daran malochen. Und am Ende bleibt es doch nur ein Traum.
Auf dem Klingelknopf steht "Schmidt", nicht mehr, nicht weniger
Wie auch immer. Die Sonne taucht Langenhorn in ein frühlingswarmes Licht, als Fotograf Stephan Wallocha und ich die Sicherheitsschleuse passieren. An der Tür des Doppelhauses, über dem Klingelknopf, steht „Schmidt“. Nicht mehr, nicht weniger. Über diese Schwelle sind sie also getreten, die Großen dieser Welt. „Herzlich willkommen“, sagt eine freundliche Dame mit Strickpulli. Erst viel später wird uns klar, dass wir Ruth Loah die Hand geschüttelt haben, der künftigen Lebensgefährtin des Witwers Schmidt.
Was heutzutage durch Medienberichte und einen starken Internetauftritt der Schmidt-Stiftung bekannt ist, umhüllt seinerzeit den Hauch des Geheimnisvollen. Von wenigen handverlesenen Fotos in ausgewählten Ecken abgesehen, blieb das Haus der Schmidts zu Lebzeiten – privat. Doch heute, an diesem Frühlingstag gut vier Jahre vor dem Tod des Staatsmannes, ist alles ganz anders. Der betagte Ehrenbürger erweist sich in Hochform. Keiner Frage geht er aus dem Weg. Und als das Telefon klingelt bittet er die Besucher zu bleiben. „Moin, Egon!“ Es ist Egon Bahr, der im August 2015 verstorbene Ex-Bundesminister, Weggefährte und Freund. Anschließend geht unser Gespräch weiter.
„Schaut euch in Ruhe um“, sagt Schmidt zum Schluss. Die Dame mit dem bunten Strickpulli führt uns durch das Refugium. Es ist eine Exkursion durch Jahrzehnte deutscher Geschichte, durch ein besonderes Hamburger Leben, durch eine bis dahin unbekannte Welt. Nach zwei Stunden verabschieden wir uns vom Hausherrn. Dieser pafft immer noch oder schon wieder, in jedem Fall wie ein Weltmeister. Er reicht die Hand: „Tschüs!“
Der letzte Termin fiel aus...
Glücklicherweise gibt es ein Wiedersehen, im Rahmen der Recherche für ein weiteres Buch in der Edition des Hamburger Abendblatts. Auch für diese Biografie, diesmal in eigener Sache, steht Helmut Schmidt ausführlich Rede und Antwort; erneut in seinem Kontor am Speersort, dem aktuell nach ihm benannten Gebäude. Kaum war der nunmehr 96-Jährige Mitte September 2015 nach einem lebensbedrohlichen Gefäßverschluss aus dem Krankenhaus St. Georg entlassen worden, rief seine Sekretärin an: „Herr Schmidt freut sich, Sie abermals zu Hause am Neubergerweg zu begrüßen.“
Klasse. Themen sollten sein 97. Geburtstag einen Tag vor Heiligabend 2015 sein, Lokis fünfter Todestag und persönliche Ausblicke. Die jahrelangen Erfahrungen mit dem früheren Bundeskanzler und urpreußischen Hanseaten lehrten: Ein Schmidt, ein Wort. Basta.
PS: Dass dieser Termin in den eigenen vier Wänden letztlich nicht mehr zustande kam, lag nicht an Helmut Schmidt. Es lag an höheren Mächten.