Von wegen hanseatisch: In diesem Polit-Skandal um von Beust und Schill ging es um Verrat, Intrige und ein Outing. Was dahintersteckte.
Dieser 19. August 2003, eigentlich ein schöner Sommertag, hatte es wirklich in sich. Der Tag, an dem der Erste Bürgermeister Ole von Beust (CDU) den Zweiten Bürgermeister und Innensenator Ronald Schill Knall auf Fall entließ, besser gesagt: buchstäblich zur Tür hinauswarf, rüttelte an den Grundfesten der Stadtrepublik, die sich gern hanseatisch gediegen und tolerant zeigt.
Innerhalb weniger Stunden entwickelte sich eine Dramatik und Dynamik, die alle Konsequenzen möglich erscheinen ließ – bis hin zum Bruch des Senatsbündnisses von CDU, Schill-Partei und FDP sowie Neuwahlen. An diesem Tag zeigte sich, wozu Menschen fähig sind, wenn es um Macht und deren Erhalt geht, und sei es auch nur ein letztes Festklammern. Mir fiel es an diesem Tag schwer, professionelle Distanz zu den Geschehnissen zu wahren. Wie auch: Verrat, Intrige, Nötigung, ja Erpressung und ein homosexuelles Zwangsouting – das sind nicht die Zutaten, aus denen unsere Storys aus dem ehrwürdig wirkenden Rathaus in der Regel bestehen.
Falscher Vorwurf: "Du hast deinen Liebhaber zum Senator gemacht"
Um 9.40 Uhr betritt Schill das Büro des Bürgermeisters, der ihm ohne Umschweife, wie es seine Art ist, eröffnet, dass er Schills Staatsrat Walter Wellinghausen entlassen werde. Wellinghausen, der Schill einen Großteil der Arbeit abnahm, hatte offensichtlich Einnahmen aus verbotenen Nebentätigkeiten erzielt und war aus Sicht von Beusts nicht zu halten.
Das Gespräch wird schnell hitzig. „Wenn das mit Wellinghausen passiert, werde ich heute der Öffentlichkeit mitteilen, dass du deinen Freund und Liebhaber zum Senator gemacht hast und dein Amt für persönliche sexuelle Beziehungen missbrauchst hast“, sagt Schill, der auf Justizsenator Roger Kusch anspielt, nun laut und zornig. „Heute Abend: Primetime“, ruft Schill immer wieder. Von Beust: „Raus. Verlass sofort das Büro. Ich will dich hier nie wiedersehen. Das war’s.“
Ronald Schill ist zur Pressekonferenz gar nicht eingeladen
Um elf Uhr folgt der berühmte Show-down im prall gefüllten Raum 151 des Rathauses: Schill sitzt schon da, obwohl er zur Pressekonferenz nicht eingeladen ist, als Ole von Beust den Raum betritt. Eine kuriose Situation: Schill hört schweigend zu, als der Bürgermeister seinen Rauswurf und den von Walter Wellinghausen verkündet.
Die beiden sehen sich nicht an, von Beust lässt keine Fragen zu und geht. Die Bühne gehört Schill, und er nutzt die Aufmerksamkeit, um sich endgültig ins Abseits zu manövrieren. Raunt von Zeugen, die „verdächtige Geräusche“ aus Kuschs Wohnung am Hansaplatz gehört haben wollen. Es ist das Waschen schmutziger Wäsche auf der Basis von Hörensagen. Ein absoluter Tiefpunkt der Rathauspolitik.
Von Beust will die Meinung der Journalisten hören
Gegen 13 Uhr sitzen wir – vier Kollegen anderer Medien und ich – im Büro des Bürgermeisters, der uns den entscheidenden Dialog mit Schill zum ersten Mal erzählt. Klar, er will die Stimmung testen, unsere Bewertung hören. Zu diesem Zeitpunkt ist überhaupt noch nicht sicher, wie es weitergeht. Hält die Koalition ohne Schill, ohne den von Beust nicht Bürgermeister geworden wäre? Zerfällt die Schill-Partei ohne ihren Gründer und Namensgeber? Und was bedeutet das Outing als Homosexueller für Ole von Beust als Politiker? Wir Journalisten sehen den Rauswurf als notwendig, ja zwangsläufig an, wenn er auch manchem angesichts früherer Eskapaden von Schill zu spät kommt. Mir auch.
Wir erleben einen Ole von Beust, dem die Tragweite und die ungewisse Zukunft bewusst ist, der aber völlig mit sich im Reinen wirkt. „Ich fühle mich befreit“, gesteht er und sagt zum Rauswurf Schills einen Satz, der wie aus der Zeit gefallen wirkt: „Das ist eine Frage der Ehre.“ Während von Beust ein gutes halbes Jahr später mit dem Erringen der absoluten Mehrheit seinen größten Erfolg feiern kann, endet Schills politische Karriere abrupt.
Einen solchen Tag hat es im Rathaus vorher nicht und seitdem nicht wieder gegeben. Gut so. Aber mal ehrlich: Würde uns das Verhalten von Schill heute noch so schocken – in Zeiten eines US-Präsidenten, der seine politischen Gegner und Mitstreiter via Twitter übel verunglimpft? Gibt es eine schleichende Gewöhnung an die Niedertracht in der Politik?