Der junge Verleger aus Altona erfüllte sich mit der Abendblatt-Gründung einen Traum. Die Umstände waren sehr speziell.
Die Maß Bier auf dem Münchner Oktoberfest kostet zwei D-Mark. In der britisch-amerikanischen Wirtschaftszone sollen demnächst monatlich 700.000 Paar Schuhe auf den Markt kommen. Ein Hamburger Strafrichter hat im Gerichtssaal eine Verteidigerin gerügt, weil ihm ihre „starke Schminkauflage und die auffallend rot lackierten Fingernägel in Anbetracht der Not des Volkes unangebracht“ erschienen.
Es sind nur ein paar Kostproben dessen, worüber das Hamburger Abendblatt in seiner ersten Ausgabe vor 70 Jahren die Leser informierte. Aber sie verraten einiges über das publizistische Büfett, wie es den Menschen in der Hansestadt fortan geboten werden sollte.
Nein, solche Dinge wie die eingangs erwähnten, manche scheinbar belanglos, mussten die Leser nicht unbedingt wissen. Aber sie sollten – und wollten. Davon war Axel Springer überzeugt. Zwar fand auch die große Politik, in der es um das noch ungewisse Schicksal des besiegten Deutschlands ging, reichlich Platz im Blatt. Doch dem jungen Verleger – er war 36 – kam es darauf an, der vorherrschenden parteigebundenen Presse endlich eine Zeitung entgegenzusetzen, die die Leser von der ersten bis zur letzten Zeile interessiert, entspannt und unterhält.
Axel Springer traf mit dem Hamburger Abendblatt eine Gemütslage
Er traf offenkundig die Gemütslage der Bevölkerung ziemlich genau. Innerhalb von nur vier Stunden waren alle 60.000 Abendblatt-Exemplare des ersten Tages für je 20 Pfennig verkauft. Nach sechs Wochen hatte die Auflage 107.000 Stück erreicht, nach einem halben Jahr 170.000.
Mit dem Start des Abendblatts erfüllte sich Axel Springer nicht nur den lange gehegten Traum von einer eigenen Tageszeitung. Der Erfolg brachte ihn auch seinem Ziel näher, „das größte Verlagshaus Europas zu bauen“, sobald das freie Wort in Deutschland wieder gelten werde. So hatte er es sich in den letzten Tagen von Nazi-Herrschaft und Krieg vorgenommen. Worauf sein Vater zur Mutter sagte: „Ottilie, ich glaube, der Junge ist verrückt geworden.“
Jedenfalls machte sich der Junior in der Stunde null unverzüglich auf seinen Weg. Der Verlegersohn aus Altona verfügte nicht nur über Erfahrungen als gelernter Drucker und Journalist, sondern auch über kreative Ungeduld. Axel und Vater Hinrich Springer reaktivierten ihren von den Nazis geschlossenen Verlag Hammerich & Lesser, in dem sie einst die „Altonaer Nachrichten“ herausgebracht hatten.
Verlagshaus und Druckerei an der Königstraße in Altona lagen in Trümmern. Aber Axel Springer hatte noch Anfang der 40er-Jahre Zehntausende Bände mit belletristischer Literatur in der Lüneburger Heide eingelagert, ebenso Tonnen von Druckpapier. Die konnte er nun endlich zu Geld machen. Weihnachten 1945 erschien als erstes neues Produkt ein Abreißkalender mit dem Titel „Besinnung. Ewige Worte der Menschlichkeit“.
Die erste "Hörzu" erschien 1946
Im März 1946 brachte Springer die erste Nummer der „Nordwestdeutschen Hefte“ mit Beiträgen aus dem NWDR-Programm heraus. Und das nächste Projekt war längst in Arbeit: Das erste Heft mit dem Titel „Hörzu“ erschien am 11. Dezember 1946. Die Auflage von 250.000 Stück war nach wenigen Stunden vergriffen, der finanzielle Grundstein für den Erfolg des Konzerns gelegt.
Doch gab es auch besorgte Stimmen. So äußerte Bürgermeister Max Brauer, Sozialdemokrat und Freund der Springer-Familie, die Befürchtung, „der junge Herausgeber und Verleger könnte sich übernehmen“. Gegenüber seinem Freund Felix Jud soll Springer bekannt haben: „Mensch, ich brauch einen, der auf mich aufpasst, ich hab so viele Ideen, ich mach im Handumdrehen pleite, wenn keiner auf mich aufpasst!“
Bürgermeister Max Brauer trat für Axel Springer ein
Der wurde bald gefunden: Karl Andreas Voss, gestandener Profi, ordnete die inzwischen vielfältigen Aktivitäten – und Springer arbeitete weiter an seinem Plan, eine eigene Tageszeitung herauszubringen. Das Blatt sollte „Excelsior“ heißen. Doch noch ließen die Briten Axel Springer zappeln. Erst im Herbst 1947 mehrten sich die Signale, dass die Militärregierung womöglich die Lizenz für eine überparteiliche Zeitung in Hamburg vergeben würde. Springer formulierte einen Antrag für ein Blatt, in dem der lokale Teil das Zentrum bilde, eine Zeitung, „die in die Familie Eingang findet“, die niveauvolle Allgemeinverständlichkeit garantiere und auf Schulmeisterei verzichte. Seine Ideen zielten auf einen in Deutschland völlig neuen Zeitungstyp nach angelsächsischem Vorbild.
Nicht die Information sollte im Mittelpunkt stehen, sondern das Bedürfnis des Lesers. Springer schwor fortan seine Mitarbeiter darauf ein: „Behandelt mir diesen Leser schonend …, fragt euch, was diesem Leser wohltut, was er braucht, um seinen Alltag zu verstehen.“
Nun kam Springer auch Glück zu Hilfe: Denn während das Lizenzverfahren im Gange war, übertrug die Militärregierung die Auswahl unter den Bewerbern an einen beratenden Presseausschuss, den der Hamburger Senat ernannte. Und so war es kein Geringerer als der Erste Bürgermeister Max Brauer, der entscheidenden Einfluss nahm. In einem Schreiben an die Briten hob er Springers „persönliche und politische Qualifikation“ hervor, die für das neue Projekt „wünschenswert und notwendig“ seien.
Wenig später konnte Brauer seinem Freund verkünden: „Axel, jetzt kannst du deine Zeitung machen.“ Am 12. Juli 1948 hielt Springer die Lizenz Nr. 1 für das Hamburger Abendblatt in den Händen.
In seiner Wohnung klebte Axel Springer Seiten zusammen
Eilends musste jetzt die nötige Infrastruktur geschaffen werden. In seiner Privatwohnung an der Elbchaussee probierte der Verleger selbst Schrifttypen aus und klebte Musterseiten zusammen, dort konferierten auch die damals rund 20 Redakteure und wurde das Konzept verfeinert. Die Verlagsräume in einem Hinterhaus der Alten Volksfürsorge an der Außenalster wurden ausgebaut, Satztechnik, Schreibmaschinen und Auslieferungsfahrzeuge gemietet.
Die Mittel dafür lieferte die hochprofitable „Hörzu“. Springer pachtete Druckkapazitäten bei Broschek & Co. an den Großen Bleichen (heute Hotel Renaissance) – gegen den Widerstand der Broschek-Erben, die dadurch ihre Pläne für eine Wiederbelebung des „Hamburger Fremdenblatts“ gefährdet sahen.
Am 13. Oktober sollte es so weit sein, doch Springer war abergläubisch und verschob den Starttermin für sein Abendblatt auf den 14. Oktober, einen Donnerstag. Acht Seiten war die Zeitung dünn: Dem Titelblatt folgten die Meinungsseite, eine Hamburgseite, eine komplette Seite Anzeigen, dann die Sportseite,, eine Seite Unterhaltung/Kunst/Wissen mit Fortsetzungsroman, eine Seite Volkswirtschaft/Weltwirtschaft und schließlich die Bilderseite (heute „Aus aller Welt“) mit neun Foto-Geschichten sowie einem Aufmacher unter dem Titel „Hitler, Himmler und die Sterne“ – Tagebuchaufzeichnungen eines Astrologen, der die Nazi-Führung beraten hatte.
Abendblatt-Premiere mit Hans Albers
Während viel Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur (auch Max Brauer und Hans Albers waren dabei) mit Axel Springer ein rauschendes Premierenfest feierte, verspotteten Konkurrenten den Verleger als „Sternengucker“; seine neue Zeitung könne in Hamburg angesichts der gesättigten Zeitungslandschaft „nicht mehr erfolgreich operieren“.
Springer sollte sie Lügen strafen, auch und vor allem, indem er sich anfangs bis ins letzte Detail um die Dinge selbst kümmerte. Er bestimmte, was wie wo ins Blatt gelangte. Noch vor 7 Uhr in der Früh erschien er im Verlag, fischte in den Konferenzen kleine Zettel mit Kritik und neuen Ideen aus den Taschen seiner Maßanzüge. Für Springer selbst war es „die Zeit meiner eigentlichen Liebe zum Beruf“, wie er später einmal bekannte.
Übrigens: In England brachte eine Frau acht Tage nach dem ersten Sohn einen zweiten zur Welt. Eine äußerst seltene Zeitspanne zwischen Zwillingsgeburten.
Auch das erfuhren die Leser des ersten Abendblatts vor 70 Jahren.