Broiler, Soljanka, Zweiraumwohnung: Als die Mauer fiel, lernte eine Redakteurin ihre Sprache neu. Ein Wort fasziniert mich bis heute.
Kommst du rückwärts mal vorbei?“ Diese Frage, gestellt Anfang der 1990er-Jahre an meinen Kollegen Matthias, hat meine norddeutschen Kollegen aus dem Layout des Abendblattes nicht nur zum Lachen gebracht, es hat sie sogar zur Pantomime inspiriert. Rückwärts vorbeikommen? Interessant. Wie soll das denn gehen? Natürlich meinte ich, dass Matthias auf dem Rückweg aus der Mettage (das gab es damals noch) bei mir noch mal vorbeischaut. Matthias hat mich sofort verstanden, kommt er doch wie ich aus dem Osten.
Ein weiteres Beispiel aus der Redaktion: Meine Aussage „Der hat doch einen Knick in der Pupille“ (sieht also nicht so richtig gut) erfreute damals ebenfalls die Layouter. Knick? Der Knick im Norden, das sind doch die Büsche zwischen zwei Feldern, lernte ich schnell. Der Knick ist übrigens bis heute mein Lieblingswort.
Deutsch in der DDR und in der Bundesrepublik
Als ich während meines Studiums in Leipzig (es war lange vor dem Mauerfall) die These von zwei verschiedenen deutschen Sprachen präsentiert bekam, wehrte ich mich vehement. Okay, zwischen den Sortimenten einer Kaufhalle und eines Supermarkts gab es gravierende Unterschiede, aber zwei deutsche Sprachen, eine in der DDR, die andere in der BRD? Ein kleines bisschen Wahrheit ist aber doch dran, das hat der Praxistest in 28 Jahren beim Hamburger Abendblatt ergeben.
Ich meine damit nicht nur die immer wieder gern zitierten Broiler, Soljanka, Zweiraumwohnung, Fahrerlaubnis, Plaste und Elaste, Kosmonauten. So verfügt jeder West-Kollege (politisch korrekt: und West-Kollegin) auch über einen deutlich größeren Wortschatz.
Ups: Beim Abendblatt wird aber viel geredet
Die unterschiedlichen Wörter und ihre Bedeutungen sind übrigens auch Gegenstand der Forschung. Es sind immerhin zwischen 800 und 3000 Wörter, klingt viel, sind aber maximal drei Prozent. Also kein Problem für die deutsch-deutsche Verständigung und die Einheit.
Zurück zum Wortschatz: Dass meine Kollegen (und Kolleginnen) und Freunde (Freundinnen) in Hamburg aber auch über deutlich mehr Wörter als meine Freunde in Sachsen, Thüringen und Ostberlin (Schreibweise West: Ost-Berlin) verfügen, wurde mir schnell bei den Konferenzen des Abendblatts deutlich. Hier wurde und wird viel geredet, manchmal wäre die Kurzversion angebracht. Aber da bin ich gesellschaftlich wohl vorbelastet: Im Osten gab es bis zur Wende 65.000 Wörter im Duden, der Westen kam schon damals auf 110.000 Wörter.
Das Entscheidende war und ist jedoch, dass wir uns beim Abendblatt, egal, aus welcher Region wir kommen, einfach nur gut verstanden und zusammengearbeitet haben, Knick hin oder her.