Hamburg. Der meteorologische Sommer ist vorbei. Was wäre, wenn tatsächlich eine neue Heißzeit angebrochen ist?
Es gibt diesen blöden Witz, den die Bayern gerne über uns Norddeutsche erzählen: „Die Hamburger lieben ihren Sommer. Das ist für sie die schönste Woche im Jahr.“ Nach diesem Sommer der Rekorde ist Schluss mit dem Gespotte. So warm wie 2018 war es in Hamburg seit Beginn der Aufzeichnungen des Deutschen Wetterdienstes noch nie. Ein schöner Tag jagte den nächsten. Zuerst freute man sich, dann kam man aus dem Wundern gar nicht mehr heraus. Kann es wirklich wahr sein? Wenn im Morgenmagazin Wetterexperte Benjamin Stöwe regelmäßig Temperaturen auf einer Grafik präsentierte, die wir nie für möglich gehalten hätten: 35 Grad. 36, 37! Solche Zahlen kannte ein Hanseat bisher nur vom Fieberthermometer.
Der Eisverkäufer bei uns an der Ecke hatte schon Ende Mai seinen Jahresumsatz zusammen. Bei 1,40 Euro pro Kugel und den diesjährigen Hitzewallungen für alle kommt am Ende locker ein Ferrari für ihn zusammen, schätze ich, denn immer wenn ich ihn sehe (oft), strahlt und scherzt er und gibt den Kindern sogar Erwachsenenkugeln, obwohl man die Kindergröße bestellt und bezahlt hat. Erste Lektion: Ein guter Sommer macht großzügig.
Anhaltendes Urlaubsgefühl
Was wäre, wenn es immer so bliebe? Wenn uns auch 2019, 2020 und 2021 die Sonne aus dem Hintern scheint? Entschuldigen Sie, aber das anhaltende Urlaubsgefühl macht locker, da rutscht einem die ein oder andere Formulierung wie ein Flutschfinger durch die Hände. Apropos Nägel: Sonst reicht es für gewöhnlich, von April bis September zweimal zur Pediküre zu gehen, aber diesen Sommer musste man (frau) in dieser Hinsicht richtig investieren. Denn 2018 war das Jahr der Sandale. Ich habe gezählt: Es waren bei mir 76 Tage am Stück ohne Socken. Was das an Wäsche spart! Wir alle hätten mehr Geld für andere Dinge übrig, denn unsere Garderobe bestünde nur noch aus T-Shirts und Röcken. Ein kleines bisschen Stoff, mehr braucht der Mensch nicht zum happy sein.
Die unglaubliche Bilanz des Sommers
Ganz neue Industrien entstünden: die Hundeschuh-Produktion beispielsweise. Die österreichische Polizeistaffel hatte in diesem Sommer als erste Schuhe für ihre Hunde eingeführt, damit sie sich die Pfoten nicht verbrennen; andere hechelten dem guten Beispiel hinterher. Bekleidungsvorschriften müssten neu geschrieben werden: Künftig grüßen Bankangestellte der Berenberg Bank in kurzen Hosen ihre Kunden, der Bürgermeister trägt Sonnenkäppi, Carola Veit bringt eine Fächerkollektion auf den Markt, mit deren Erlös sie Hamburg 1000 neue Kita-Mitarbeiter schenkt.
Unbezahlbarer Wasserverbrauch
„Vom Winde verweht“ und „Ice Age 2“ würden zu den beliebtesten Filmen aller Zeiten hierzulande, sowieso erlebte die Kinobranche eine Renaissance. Klimatisierte Säle wie im CinemaxX am Dammtor werden zum place to be. Die Makler hören auf, Sonnenlagen zu bewerben, dunkle Parterre-Wohnungen steigen im Wert: „Sehen Sie wie wenig Licht durch diese Fenster nach Nordost kommt, herrlich!“
Freunde von uns, die sonst wegen der Dunkelheit in ihren Räumen häufig auf Mitleid treffen, bekamen in diesem Sommer so viel Besuch wie nie zuvor. Gärten will wegen des unbezahlbaren Wasserverbrauchs künftig niemand mehr haben. Dafür streben plötzlich alle nach einer Festanstellung im Supermarkt. „Ist es nicht schön?“, fragte mich neulich eine Angestellte lächelnd bei Edeka, als ich meine Handgelenke kurz in die Gefriertruhe hielt.
Gewinner sind Blaualgen-Experten und Tattoos
Ja, ein Sommer wie dieser in Dauerschleife, der würde unsere Arbeitswelt, unsere Wirtschaft und unsere Laune revolutionieren. Sonne macht glücklich, der norddeutsche Endorphin-Spiegel wäre so hoch, dass Therapeuten umschulen müssten (Edeka?), auch die Pharma-Industrie käme mit ihren Vitamin-D-Pillen auf keinen grünen Zweig mehr.
Dafür freuen sich die Winzer. 2018 wird ein Jahrhundertjahrgang, versprechen sie schon jetzt. Was hat sich unser Geschmack in den letzten Monaten verändert! Wie viele Tage im Jahr geht sonst schon Gazpacho zum Frühstück und Rosé (zum Rest des Tages)? Bei mir nur ab 25 Grad, mit einer halben Flasche Miraval pro Jahr kam ich also hin. Doch bei 58 Tagen über 25 Grad? (s. u.)
Wir alle müssen umdenken. Ganzkörper-Tattoos, die Inschriften der Moderne, machen unter diesen Umständen Sinn. Zumindest werden sie gesehen, weshalb man eigentlich auch keine Bücher mehr braucht. Was habe ich im August nicht alles an der Ostsee lesen dürfen: „Du musst geduldiger werden.“ „Dauert das länger?“ stand beispielsweise quer über dem Rücken eines Mannes, dessen Kumpel einen misslungenen Löwen auf der Schulter trug. Ich glaube, es war ein misslungener Löwe, andernfalls war es ein gutes Warzenschwein. Was ich sagen will: Wir werden viel mehr voneinander mitbekommen, die Distanz wird kleiner. Mehr Fleisch, mehr Poren aus nächster Nähe.
Lehrreiche Hitze
Weiterer Nachteil: Es gibt keine Diät-Ausreden mehr. Bei deutschen Sommern lohnt sich die Arbeit für eine Bikini-Figur nicht? Von wegen. Nachdem die Programmierer die gefeierte Berufsgruppe der 2010er-Jahre darstellten, sind die Gewinner der Stunde Personal Trainer, Blaualgen-Experten sowie Fachanwälte für Hitze-Arbeitsrecht. Merke: Es gibt keinen verbindlichen Anspruch auf hitzefrei, lediglich Empfehlungen an die Chefs, ab 26 Grad für Sonnenschutz im Büro zu sorgen.
Was habe ich in den letzten Monaten nicht alles gelernt: zum Beispiel das Wort „Verdunstungskühlung“, wie sich Fische auf den niedrigeren Sauerstoffgehalt von warmem Elbwasser einstellen, dass ein Zürgelbaum Hitze besser verträgt als ein Ahorn oder wie man Ernteausfälle so ungefähr beziffert. Einfach mal 1,4 Milliarden Euro fordern, während man im Schweiße seines Angesichts auf einem verdorrten Feld steht. Damit erntete (!) man als Präsident des Deutschen Bauernverbandes in diesem Jahr noch Mitleid und Verständnis. Im nächsten Jahrhundertsommer 2019 kämen sicher die ersten Stimmen, doch nun endlich auf Orangen- und Zitronenanbau zu setzen, anstatt dem Klimawandel mit Rechnungen an den Staat zu begegnen.
Fragwürdige Freizeiterfindungen
Und wo wir schon bei unserem Heimatland sind: Dafür, dass unsere Sommer nicht länger grün angestrichene Winter sind, dafür müssen wir einen Preis bezahlen: Niemand will mehr auswandern. Leute wie Daniela Katzenberger und die Geissens bleiben dann eben da. Nach Mallorca fliegen wir nur noch zum Abkühlen.
Im Gegenzug funktionieren fragwürdige Freizeiterfindungen wie Bananenboot fahren und Eimer trinken perspektivisch auf und an der Alster. Jet-Ski-Verleihe anstatt Container-Terminals: Die Elbvertiefung muss noch mal ganz neu verhandelt werden. Im Jahr 3000 gäbe es voraussichtlich eine Entscheidung dazu. Doch dann ist Berlin bereits versandet, die letzten Regierungsvertreter befinden sich im Ruhestand auf Sylt, und Beiersdorf hat mit einem Sonnencreme-Patent die Weltherrschaft an sich gerissen.