Hamburg. Gerhard Kirsch leitet die Gewerkschaft der Polizei. Auf St. Pauli hatte er mit Lackschuh-Dieter und der Nutella-Bande zu tun.

Gerhard Kirsch lacht gleich einmal ein tackerndes Lachen und sagt, es gebe ja noch Leute, die hinter ihm stehen. Trotz allem. Sein Reich misst jetzt 20 Quadratmeter, auf dem Schrank ein schmutziger Einsatzhelm. „Nach all den Jahren jetzt den Verkehrserzieher zu machen, finden einige vielleicht komisch. Aber es ist mir ernst.“ Wie das Plüschtier an seiner Schreibtischlampe hängt die Frage mit im Raum, ob dieser Mann hier eigentlich angekommen oder bloß gestrandet ist.

Draußen auf den Fluren des Polizeipräsidiums klackern vereinzelte Schritte über den Flur. In vielen Abteilungen hat längst eine neue Generation von Polizisten das Sagen: kantige, smarte Typen mit vielleicht 35 Jahren und Kurzhaarfrisuren, die aussehen, als wären sie einst schon im perfekt sitzenden Anzug auf einer Hantelbank zur Welt gekommen.

Sein Schnurrbart ist der bekannteste der Hamburger Polizei

Gerhard Kirsch ist 54 Jahre alt, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und seit 38 Jahren Polizist. Das weiße Hemd wellt sich über dem gemütlichen Bauch. „Für mich galt immer, dass wir es auch bei Straftätern immer mit Menschen zu tun haben“, sagt er. Sein Schnurrbart ist der bekannteste der Hamburger Polizei; Schutzmann-Legende, Mann des Volkes, unser „Kirsche“, sagen die einen. „Ach, der Kirsch“, meinen andere. Eine alte Art von Polizist, kurz davor, aus der Zeit zu fallen.

Er gebe gern zu, dass er meistens ein Bauchmensch sei – und der Bauch ist eben oft schneller als der Verstand. Eigentlich wollte Gerhard Kirsch immer nur als Polizist auf der Straße unterwegs sein und die richtigen Entscheidungen treffen. Heute leuchten vier Sterne auf seinen Schulterklappen; „Leiter der Verkehrsprävention“, hält seine Visitenkarte aktuell fest. Seine Geschichte ist die eines erfüllten Traums und einer Tragödie – die eines Gewerkschafters, der sich immer mehr in den Spielen hinter den Kulissen verhedderte, je höher er in seiner Karriere stieg.

St. Pauli und die Davidwache prägten ihn

Ein anderer Job als Polizist sei nie lange infrage gekommen, sagt Kirsch. Er hat eine fast rheinische Art zu sprechen, aber wächst bei Winsen/Luhe auf. Sein Vater ist Hafenarbeiter, die Mutter Hausfrau; sie schenken ihm einen kleinen Polizeijeep zum Herumfahren. Von diesem Punkt an gibt es für ihn keinen anderen großen Traum mehr. „Ich war an dem Ding wie festgeklebt.“

Mit 16 Jahren geht er zur Hamburger Polizei, sein Vater setzt ihn vor dem großen Tor ab. Es fühlt sich an wie die Eroberung eines fremden Planeten. Kirsch schiebt erste Dienste in Harburg, dann wird er versetzt. St. Pauli, Davidwache. „Da bin ich das erste Mal wirklich in der Realität angekommen.“

Es sind die frühen 80er-Jahre, die „Nutella-Bande“ und die „GMBH“ sind die Hauptdarsteller der wilden Schurkenstücke auf dem Kiez, Werner „Mucki“ Pinzner legt andere Milieugrößen wie „Lackschuh-Dieter“ um. Der Revierführer nimmt den Bubi vom Dorf unter seine Fittiche, Kirsch hält seine Chefs für Könige. „Die Kontrolle auf dem Kiez hat die Polizei nie verloren.“ Als er im Dienst das erste Mal eine Live-Sex-Show sieht, staunt sich Kirsch die Augen aus.

Peterwagen? Kirsch geht lieber zu Fuß...

Sein Vorgesetzter sieht etwas in Gerhard Kirsch. Eine halbe Nacht lang reden sie einmal in einem Aufenthaltsraum über den Job, Privates, den großen Plan. „Am Ende sagte er: ,Dich machen wir zu einem Offizier.‘“ Kirsch beginnt die Laufbahn zum gehobenen Dienst. Zum Abschied schwört er den Kollegen: „Ich werde die heiligen Stufen aus Granit zur Davidwache wieder hinaufgehen.“ Einen Mann wie Kirsch gibt es nie ohne eine zünftige Portion Pathos.

Es dauert lange bis zu seiner Rückkehr, Kirsch geht etwa zur Verkehrsstaffel und macht Stabsarbeit; „Papiere schreiben, die die Welt nicht braucht“, sagt er zu Letzterem nur halb im Spaß. Aber Kirsch lernt auch, in größeren Linien zu denken. Er habe gespürt, wie sein Vater stolz auf ihn war, sagt Kirsch. „Auch wenn man ihm das nie ansah.“

Als gestandener Beamter kehrt Kirsch im Jahr 1998 auf seinen Kiez zurück. Jetzt nimmt er selbst junge Kollegen mit auf Streife, seinen Peterwagen nutzt er so gut wie nie; er schwört darauf, zu Fuß herumzulaufen, präsent zu sein, sich einfach überall vorzustellen: „Man muss sich schon kennen, auch wenn man sich nicht verbrüdern darf.“

Das Abfeuern flapsiger Sätze braucht Kirsch nicht zu trainieren; und wenn sich einer „wie offene Hose“ benimmt, hat der Schutzmann eine kurze Lunte. „Dann gibt es eine Ermahnung, und sonst drückt man ihn zu Boden.“ Die Zellen der Wache sind voll. Kirsch glaubt, dass die Taktik noch viel größeren Stress verhindere. Gleichzeitig ist er Ansprechpartner für die Kiezianer.

Wurde er auf dem Kiez abgesägt?

Es wächst in den folgenden Jahren etwas heran, das Kirsch nicht genau beschreiben kann; er wird zu einem Teil des Stadtteils, selbst eine Art Institution in Lederjacke. Die Gewerbetreibenden vertrauen ihm, und das Rotlichtmilieu respektiert ihn. Der Traum platzt im Sommer 2008, nach genau zehn Jahren auf dem Kiez. Kirsch soll versetzt werden. Der „beliebteste Kiez-Polizist“ müsse gehen, klagt die „Morgenpost“ auf der Titelseite, „der Stadtteil kämpft für ihn.“ Kirsch hat lange darüber nachgedacht, wen er so verärgert habe, dass er damals „abgesägt“ wurde. Vielleicht ist es auch schwer zu begreifen, dass Beamte eben nach einer gewissen Zeit meistens auf einen anderen Posten rotieren.

Sie setzen ihn nach Poppenbüttel, Riesenrevier: grünes Alstertal statt rauer Kiez. Am Abend seiner ersten Nachtschicht fährt Kirsch zur Stadtbahnstraße, stellt sein Auto gegenüber der Shell-Tankstelle ab. „Der einzige Ort, wo es dort schönes Neonlicht gibt. Sonst ist ja fast alles dunkel.“ Ihm stehen an diesem Abend Tränen in den Augen.

Die Konkurrenz johlte über seine Fehltritte

Nach sieben Monaten im hohen Norden der Stadt geht eine Tür in der Verkehrsdirektion auf – Kirsch nimmt den Job gern. Er beginnt, sich in der Gewerkschaft zu organisieren. Es hat den Vorteil, viel Kontakt zu seinen täglich malochenden Kollegen zu haben.

Die Gewerkschaft der Polizei verbindet eine harte Rivalität mit der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Der dortige Chef Joachim Lenders ist ein Gegenentwurf zu Gerhard Kirsch: ein Strippenzieher mit gewachsenem Netzwerk, als Personalrat vom üblichen Dienst freigestellt. Lenders wirft sein politisches Gewicht bis heute mit Verve in die Rathauspolitik und TV-Talkshows. Kirsch ist dafür bekannt, bei fast jedem größeren Einsatz mit Bockwürsten und Kaffee von Einheit zu Einheit zu düsen. Bei Facebook spricht er die Sprache des einfachen Beamten. „Ich mache das bis heute ehrenamtlich“, sagt Kirsch, nach dem eigentlichen Polizeijob, die Stunden habe er nie gezählt.

Auf dem Parkett der Gewerkschaftspolitik aber ist Kirsch nicht so trittsicher wie auf dem Kiez. 2015 wird er, der Beamte aus der Verkehrsdirektion, bei zu schnellem Fahren geblitzt. Von der stadtbekannten Anlage an der Stresemannstraße. Unangeschnallt. Mit Handy am Ohr. Es dauert keine zwölf Stunden, da hat ein Kollege Kirsch bei einem Reporter angeschwärzt. „Ich habe Mist gebaut“, sagt der Gewerkschaftschef. Kirsch, der Tollpatsch. Hinter vorgehaltener Hand johlen die Konkurrenten.

Machtkampf auch bei Facebook

Auch in den eigenen Reihen der Gewerkschaft sägen sie an ihm. Drei der vier Stellvertreter aus dem Landespräsidium stellen sich gegen Kirsch und seinen Führungsstil, überziehen ihn auch mit Strafanzeigen und Journalisten mit SMS. Kirsch war nie der Typ, der unbedingt Gewerkschaftsboss werden wollte. Aber zu dieser Zeit war es eine Frage des Stolzes, es zu bleiben.

Der Machtkampf zieht sich über mehr als zwei Jahre; am Ende steht Kirsch noch immer als Landesvorsitzender da. Seine Posts bei Facebook werden von den Kollegen gefeiert. Die nächste Personalratswahl verliert die GdP trotzdem – der Rivale Lenders bleibt der Mächtigere der beiden Gewerkschafter.

Es gibt einen Moment im vergangenen Jahr, da steht ein erneutes Comeback in der Davidwache kurz bevor. Zu einem seiner Vorgesetzten sagt Kirsch: „Lass mich doch mal wieder raus.“ Der Kreis könnte sich schließen, denkt er da kurz, die Reeperbahn seine Prägung und letzte Station sein. Dann kommt das Angebot, Leiter der Verkehrsprävention zu werden. Und Kirsch willigt ein.

„Mein Bruder ist bei einem Motorradunfall gestorben“, sagt er, „das ist jetzt wieder sehr stark präsent.“ Er hat sich hineingewühlt in sein Thema, in „Geister-Radler“ und „Eltern-Taxis“. Kinder zu sehen, wie sie den Verkehrskasper bejubeln, gibt ihm viel. Da ist auch ein Wunsch nach Frieden bei diesem lauten, manchmal überdeftigen Polizisten. In seinem Haus im Umland liest Kirsch und sammelt Münzen. „Sie erzählen Geschichten, aber reden nicht.“

Was er gedacht habe, wenn er in den letzten Jahren manchmal leicht belächelt wurde? „Das zeigt doch eher eine Verunsicherung. Mich hat das nie irritiert.“ Ihn endgültig wegzubekommen, das hätten viele versucht, aber keiner geschafft. Aber er will im kommenden Jahr in seinem Gewerkschaftsamt deutlich kürzertreten. Kirsch ist optimistisch bei der neuen Generation von leitenden Beamten, ihre Arbeit verdiene „Hochachtung“, sagt er.

Manchmal fährt er noch hinüber zur Davidwache, von einer Außenstelle seiner Abteilung sind es nur ein paar Minuten dorthin. „Wer dort gearbeitet hat, hat die Wache immer in Herz und Kopf.“ Bei seinen Besuchen trägt er manchmal noch eine Lederjacke. Er lacht wieder, es dröhnt warm bis hinaus auf den Flur.

Drei Fragen an Gerhard Kirsch:

1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre?

Gesund zu bleiben.

2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen?

Dass wir den Anteil schwer verletzter Verkehrsteilnehmer weiter senken können.

3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren?

Dass der innere Frieden der Stadt erhalten bleibt – und die Menschen wieder mehr Rücksicht aufeinander nehmen.

Nächste Woche: Oliver Schiek, der Mann hinter den Cyclassics