Hamburg. Seit zwei Monaten leitet Ansgar Hagen die berühmteste Polizeiwache Deutschlands. Seine Pläne für St. Pauli und die Reeperbahn.

An einem Morgen Mitte Februar befindet sich Ansgar Hagen auf dem Weg zur Davidwache. In seiner zukünftigen Dienststelle will er ein Übergabegespräch mit der noch amtierenden Leiterin Cornelia Schröder führen. Er verlässt die S-Bahn an der Reeperbahn, auf der Rolltreppe rempelt ihn ein Schuljunge an. „Entschuldigung“, sagt der Junge kleinlaut. „Dann hau mal rein“, sagt Ansgar Hagen mit Blick auf die Uhr; es ist kurz vor acht. Schulbeginn. Hagen sieht, wie der Junge oben auf der Treppe an einem Mann vorbeihastet, den er in Polizistendeutsch als „relevante Person“ bezeichnet.

Was Hagen meint: Da stand ein Drogendealer an der Treppe. Am frühen Morgen. Auf einem Schulweg. Er findet: „Das geht gar nicht.“ Schon gar nicht in seinem neuen Revier. „Wir werden solche Straftaten nicht dulden, weder auf dem Schulweg von Kindern noch woanders“, sagt Hagen. Auf St. Pauli ist so eine Aussage erst mal ein Statement.

Rund um die Wache ist Kriminalität ein Problem

Seit zwei Monaten ist Ansgar Hagen Chef der berühmtesten und meistgefilmten Polizeiwache Deutschlands. Keine andere Hamburger Wache steht öffentlich derart im Fokus wie das Polizeikommissariat 15 (PK 15). Selbst außerhalb von Hamburg sorgt der Dienstantritt eines neuen Chefs für Schlagzeilen. Die Wache liegt im Herzen eines Stadtteils, in dem exzessiv gefeiert wird – und Kriminalität ein großes Pro­blem ist. Ein Problem, das Hagen angehen will, gern auch im Diskurs mit den Bewohnern. Denn unter seiner Ägide soll die Polizei wieder näher zum Bürger rücken. Er wolle den persönlichen Kontakt vertiefen, die Polizei zum „zentralen Ansprechpartner für den Stadtteil“ machen.

St. Pauli, so sieht Hagen das, sei eben nicht nur ein sich unablässig drehender Party-Brummkreisel und ein Touristen-Magnet, St. Pauli sei auch ein Ort mit bürgerlicher Infrastruktur. Mit stinknormalen Wohnhäusern, mit Schulen und Kindergärten. „Das vergessen die Leute schnell, wenn sie über St. Pauli sprechen.“ Erst vor wenigen Wochen hat die Polizei mit der Interessengemeinschaft St. Pauli eine Kampagne für mehr Umsicht im Viertel ins Leben gerufen. Beamte der Wache verteilten Hunderte „Willkommenstüten“ mit schriftlichen Hinweisen für Kiez-Besucher, die sich doch bitte „respektvoll“ gegenüber den Anwohnern verhalten und nicht in Häusereingänge pinkeln sollten.

Eine Zeitung nannte ihn „Sheriff“ – das ärgert ihn

Das könnte gut ankommen im Viertel, eine leichtes Unterfangen ist der Schulterschluss mit dem Bürger aber nicht: Das Quartier, überwiegend links-liberal geprägt, reagiert eher mit Skepsis auf Menschen in Uniform; das Wort „Udel“ (plattdeutsch: Eule) als liebevoll-spöttische Bezeichnung für den Schutzmann ist hier noch verbreitet. Auch mit dem Kampf gegen die Drogendealer ist das so eine Sache: Als im Sommer 2016 fast 300 schwer bewaffnete Beamten ins Quartier einmarschierten, um Dealer an der Balduintreppe hochzunehmen, regte sich prompt heftiger Widerstand; erst von linken Aktivisten, dann von Politikern.

Dass es Stadtteile gibt, in denen die Polizei beliebter ist, weiß Hagen und formuliert es mal positiv um: „Auf St. Pauli leben viele kritisch mitdenkende Menschen.“ Das Quartier stehe für Bewegung und Entwicklung. Ohne Fingerspitzengefühl für die speziellen Befindlichkeiten läuft hier gar nichts. Auf die Frage, ob er sich wie der neue „Sheriff“ („Nordwest-Zeitung“) von St. Pauli fühle, blickt Hagen leicht verärgert auf. Nichts könnte falscher sein! Hagen sieht sich als Polizist, der seinen Dienst versieht, er sei „zuständig für die innere Sicherheit auf St. Pauli“. Nicht mehr, nicht weniger.

„Heidenrespekt“ vor neuer Aufgabe

Im Gespräch mit dem hochgewachsenen Beamten spürt man deutlich: Hagen will keinen großen Rummel machen. Weder um seine eigene Person noch um die Davidwache. Selbstdarstellung ist ihm fremd, wenn nicht gar suspekt. Auch Privates mag er kaum preisgeben, „aus Sicherheitsgründen“ nicht mal seinen ungefähren Wohnort. Zur Entspannung läuft er, fährt leidenschaftlich gern Fahrrad und Motorrad, er hat eine Frau und zwei Kinder. Mit der Familie habe er damals nur kurz über den neuen Job gesprochen, sie habe auch „relativ gelassen“ reagiert.

Was ihn betrifft, so habe er gleich einen „Heidenrespekt“ empfunden, als er von der neuen Aufgabe erfahren habe. Gleichzeitig habe er sich sehr gefreut über diesen Vertrauensbeweis, mithin eine „Würdigung meiner Person“. Das klingt etwas hölzern, etwas amtlich. Es passt aber zu Schilderungen von Kollegen, die ihn kennen – als fleißigen und korrekten, vielleicht etwas zu korrekten Polizeibeamten. Und als jemanden, der nie den Blick verliert für die Menschen, die unter ihm arbeiten. Etwa 120 Beamte sind es in seiner neuen Dienststelle an der Davidstraße, zusätzlich verstärkt werden sie an den Wochenenden von Bereitschaftspolizisten. Bestätigen will er die Zahl nicht – aus „einsatztaktischen Gründen“. Auch da ist Polizeioberrat Hagen sehr korrekt.

Sein Vater war Polizist, sein Großvater Richter

Ansgar Hagen lässt schnell erkennen, dass er mit dem Herzen auf St. Pauli angekommen ist. Der 49-Jährige ist erst zwei Monate im Dienst, fühlt sich dem Quartier aber bereits tief verbunden. Er habe auf St. Pauli „dörfliche Strukturen“ wahrgenommen und registriere einen „starken Zusammenhalt“ im Viertel. Ja, ein wenig erinnere ihn St. Pauli sogar an seine ländliche Heimat.

Bösel, knapp 8000 Einwohner, tiefstes Oldenburger Münsterland. In der idyllischen Einheitsgemeinde nahe Cloppenburg ist Hagen groß geworden, „sehr behütet“, wie er betont. Sein Vater war Polizist, sein Großvater Richter, der Haushalt bürgerlich-konservativ geprägt. Bei der Berufswahl orientiert er sich am Vater. Seit er sich erinnern kann, habe er nie etwas anderes werden wollen, sagt er.

Nach dem Abitur in Friesoythe bewirbt er sich 1988 in mehreren Bundesländern – die Polizei Hamburg greift am schnellsten zu und stellt ihn ein. Die Ausschreitungen an der Hafenstraße erlebt der junge Hagen damals nur am Rande mit. Als Bereitschaftspolizist bekommt er es mit der Drogenszene am Hansaplatz zu tun. 1994 steigt er in den gehobenen Dienst auf, wird Dienstgruppenleiter am PK 16 (Caffamacherreihe), später dort Zugtruppführer. Die weiteren Etappen: Zugführer bei der Bereitschaftspolizei, Zugführer der Beweis- und Festnahme-Einheit (BFE). Hagen sammelt damals viele Erfahrungen auf der Straße. Drogen, Bambule, Fußball. Das volle Programm.

Begonnen hat er als Streifenpolizist

2008, immerhin fast 40 Jahre alt, bewirbt er sich für den höheren Dienst. Nach dem Studium an der Polizeihochschule in Münster-Hiltrup wird er 2010 stellvertretender Leiter der Wache Bergedorf, 2012 Polizeiführer vom Dienst im Lagezentrum. Einer der aufregendsten Einsätze in dieser Zeit ist die brutale, völlig aus dem Ruder laufende Massenschlägerei zwischen Kurden und Salafisten im Oktober 2014 am Steindamm. 2015 schließlich wird er Chef am Polizeikommissariat 41, zuständig für den Bereich Hamm/Borgfelde. Eine Wache zu führen, das stellt er da fest, sei für ihn eine „Traumverwendung.“

Ansgar Hagen hat als kleiner Streifenpolizist begonnen, jetzt ist er oben angekommen. Er ist Chef der kultigsten Wache Deutschlands mit dem kleinsten Reviergebiet in Europa, es ist nur 0,92 Quadratkilometer groß, 14.000 Einwohner leben hier, aber an den Wochenende drängen sich bis zu 50.000 Menschen im Viertel. Von seinem Büro im zweiten Geschoss blickt er auf die Reeperbahn, gegenüber reihen sich die Essbuden, Sex-Shops, Tabledance-Bars. Ein Bild wie aus einem Reiseführer. Auch Hagens Wache taucht in solchen Publikationen häufig auf. Als putziges Abziehbildchen eines viel zu oft auf ein Rotlicht-Klischee reduzierten Stadtteils will er sein PK 15 natürlich nicht verstanden wissen.

200 Strafanzeigen an einem Wochenende

Zumal die sexy Dynamik im Amüsierviertel eine Schattenseite hat. Der Stadtteil ist ein Kriminalitäts-Brennpunkt in engen Reviergrenzen; trauriger Spitzenreiter bei Diebstählen, Raubtaten, Körperverletzungen und Drogendelikten. Bis zu 200 Strafanzeigen gehen an einem Wochenende in der Davidwache ein. Mit rund 1300 Einsätzen im Monat belegen die Beamten in Hamburg eine Spitzenposition. Im neuen Jahr sind die Fallzahlen im Bereich Straßenraub noch einmal deutlich gestiegen. Nicht zu vergessen die Drogen-Problematik. Im Bereich der Balduintreppe drücken sich zu jeder Tageszeit Dealer herum und verticken, trotz häufiger Einsätze einer Spezialtruppe der Polizei, ziemlich unbedrängt ihren Stoff. Außerdem sind nach der Verschärfung des Sexualstrafrechts – eine Folge der Silvester-Übergriffe – die Anzeigen wegen sexueller Belästigung deutlich gestiegen.

Hagen sagt, er werde einen derartigen kriminellen Wildwuchs nicht dulden. Er verfolge einen repressiven und präventiven Ansatz: Es gehe darum, „Tatsachen zu schaffen“, auch im Drogenmilieu. Gleichzeitig werde die Polizei ihre „uniformierte Präsenz“ auf der Straße erhöhen.

Um zu erleben, wie es auf der Straße zugeht, läuft Hagen gelegentlich mit seinen Kollegen Streife. Oder ist mit den bürgernahen Beamten und Milieu-Ermittlern im Einsatz. Hagen will die Sicherheit auf dem Kiez nicht nur verwalten; er will sein Revier fühlen, sehen, riechen, es erleben. „Man muss in die Situationen hineingehen“, sagt Hagen. „Vom Schreibtisch aus kriegt man das Gefühl jedenfalls nicht.“