St. Pauli. Rotlicht-Paten werden bisweilen hofiert wie Prominente. Zu Unrecht, finden einige. Die Gefahr ist, dass das Milieu romantisiert wird.

Ein Fernsehreporter bummelt mit den „Kiezlegenden Karate-Tommy und Klaus Barkowski” über die Reeperbahn, in einer Illustrierten orakelt Karl-Heinz Schwensen über den Realitätsgehalt des Sado-Maso-Bestsellers „Fifty Shades of Grey“, und als „Karate-Tommy“ Thomas Born stirbt, berichten viele Zeitungen ganz groß über die Beerdigung und die trauernden „Rotlicht-Größen von St. Pauli”. Es sind Geschichten wie diese, über die Julia Staron immer wieder den Kopf schütteln muss. „Ab wie vielen schweren Verbrechen ist man eigentlich eine Legende?“, fragt Staron mit ironischem Unterton. Unter einer Legende habe sie sich jedenfalls immer etwas anderes vorgestellt.

Mit dieser Meinung steht die Quartiers-Managerin und Leiterin des St. Pauli Museums an der Davidstraße nicht alleine. Nach dem Tod von Thomas Born wurde Kritik laut: Darf man einen solchen Mann als „Kiezlegende“ bezeichnen? „Hier starb ein gewissenloser Gewaltverbrecher“, schrieb ein Leser. „Er war ein Zuhälter und hat davon gelebt Frauen auf den Strich zu schicken und sie auszubeuten“, so ein anderer.

Die Gefahr ist, dass das Rotlichtmilieu romantisiert und glorifiziert wird. „Natürlich waren das besondere Charaktere, aber sie waren eben auch negativ besonders“, sagt Julia Staron. Statt sich mit diesen Persönlichkeiten kritisch zu befassen, werde das Milieu häufig zum Entertainment stilisiert, zu einer „unterhaltsamen Geisterbahn“. „Dabei wird zu häufig aus den Augen verloren, was diese Männer auch gemacht haben.“ Für Staron heißt das: Menschenhandel, Nötigung, Körperverletzung. „Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.“

Ein Eindruck, den auch Cornelia Schröder immer wieder bekommt. „Wenn man die Bilder im Fernsehen so sieht, wirkt das immer so harmlos, weil man den Hintergrund vielleicht auch gar nicht so genau wissen will”, sagt die Chefin der Davidwache. „Aber man darf dabei nicht vergessen, dass hier zum Teil kriminelle Strukturen dahinterstecken, die mit schweren Straftaten verbunden sind.“ Sie kann bis heute nicht verstehen, warum jemand wie Thomas Born fast wie ein Prominenter behandelt wurde, der zu Premieren eingeladen wurde und über rote Teppiche lief. „Welche Berühmtheit ist er?“

Cornelia Schröder kennt den Kiez als Chefin der Davidwache
Cornelia Schröder kennt den Kiez als Chefin der Davidwache © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Thomas Born – ein Mann, an dem sich die Geister scheiden: Während die einen „Karate Tommy“ als bekanntes Gesicht einer alten und in ihren Augen aufrechten Milieu-Generation sahen, der mit seinen Geschichten über seine Zeit als robuster Leiter der „Abteilung Stress” bei der sogenannten „Nutella-Bande” für Unterhaltung sorgte, war er für andere nicht vielmehr als ein gewissenloser Gewalttäter und Schwerverbrecher, der wie viele seiner damaligen Kollegen mit den Körpern von Frauen sein Geld verdient habe.

„Die Medien haben ihn natürlich immer gerne als den groben, starken Typen aus dem Rotlicht dargestellt, aber mein Vater war ein Mensch mit deutlich mehr Facetten“, sagt Monty Born. Der 28-Jährige hat die „wilden Zeiten“ seines Vaters zwar nicht miterlebt, dennoch habe dieser nie einen Hehl um seine Rotlicht-Vergangenheit gemacht. „Wir haben einen sehr offenen Dialog geführt, Wahrheit war für ihn sehr wichtig.” Dabei habe er seinen Vater als jemanden erlebt, der sich selbst und sein eigenes Verhalten immer reflektiert habe.

„Natürlich war nicht alles gut, was früher geschehen ist“, sagt Monty Born. Die Frage, ob sein Vater ein Schwerverbrecher gewesen ist, stellt sich für den technischen Betriebswirt jedoch heute nicht. „Ja, mein Vater war mehrfach vorbestraft“, sagt Born. „Die Frage ist: Macht ihn das zu einem gesetzlosen Menschen, der ohne Skrupel und Prinzipen lebte und für den keine Moral Gültigkeit hatte? Denn das war definitiv nicht der Fall.“

Auch im Rotlichtmilieu habe es Grundsätze, Regeln und Werte gegeben, an die sich jeder gehalten habe – unabhängig von staatlicher Autorität. Auf dem Kiez habe es daher stets einen Unterschied zwischen legal und legitim gegeben. „Mein Vater hat nach diesen eigenen Regeln und Prinzipien gelebt und immer zu dem gestanden, was er getan hat.“ Reue habe er dabei nie empfunden. „Er hat immer aufrecht gestanden und gesagt: Das ist mein Leben. Die Menschen, die heute über ihn urteilen, haben nie in dieser Welt gelebt.“

Julia Staron leitet das St. Pauli Museum und warnt vor Verharmlosung
Julia Staron leitet das St. Pauli Museum und warnt vor Verharmlosung © Roland Magunia | Roland Magunia

Buchautor Michel Ruge sieht das ähnlich: „Die Bürgerlichen haben das Milieu nie verstanden. Aber wie soll man es verstehen, wenn man es nicht erlebt hat?“ In seinem Buch „Bordsteinkönig“ schildert der heute 45-Jährige seine Kindheit und Jugend in den 70er- und 80er-Jahren auf St. Pauli, erzählt vom ersten Sex mit einer Prostituierten, von den Gewaltexzessen seiner Jugendgang und der grenzenlosen Bewunderung, die er einst für die Luden auf St. Pauli hegte. „Wir haben diesen Typen nachgeeifert, wollten auch nach diesen Idealen und Regeln leben.” Das Milieu, seine Kultur, seine Gesetze und seine Sprache – all das habe auf ihn damals einen enormen Reiz ausgeübt.

„Natürlich mag es auch damals Verbrecher und Schläger gegeben haben, aber das haben wir auf eine gewisse Weise verdrängt”, sagt Ruge. „Das lag wohl auch daran, dass mir die meisten Huren damals sehr selbstbewusst und sexy erschienen.“ Bis heute denkt er gern an die „Champagner-Stimmung“ auf dem Kiez zurück. „Die 70er und 80er hatten noch eine gewisse Romantik. St. Pauli hatte eine Exklusivität, es war geheimnisvoll und attraktiv.“

Eine Faszination, die viele seiner Weggefährten und Freunde anzog. Doch obwohl Michel Ruge die Möglichkeit bekam, selbst ins Milieu einzusteigen, schreckte er davor zurück. Heute lebt er als Selbstverteidigungstrainer und Autor in Berlin. Den Kontakt ins Milieu hat er jedoch nie verloren.

Ein Mann, der all diese Erzählungen von früher ebenfalls kennt, ist Waldemar Paulsen. Seine Version der Geschichte, die der ehemalige Milieuermittler mit dem Spitznamen „Rotfuchs“ in Büchern und Aufsätzen zusammengefasst hat, liest sich jedoch ganz anders. „Es ist doch wie so oft im Leben”, sagt Paulsen. „Im Nachhinein will man sich nur noch an das Gute erinnern. Dass hier Frauen mit Totschlägern fast zu Tode geprügelt wurden, wird dabei zu oft vergessen. Diese Kiez-Größen von GMBH bis Nutella sind sehr rüde und brutal mit ihren Frauen umgegangen.”

Auch Thomas Born sei nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, erinnert sich Paulsen. Jedoch habe dieser nie die Rolle gehabt, die ihm von den Medien zum Teil zugeschrieben wurde. „Born hat aufgrund seiner Erscheinung gut in dieses Klischeebild gepasst, daher haben sie ihn gerne hochstilisiert“, sagt WaldemarPaulsen. An und für sich jedoch sei Born jedoch nur ein „kleiner Fisch“ gewesen. „Born hat sich immer gerne als kleiner Pate von St. Pauli inszeniert, der er nie war.“ Die wahren Chefs blieben dagegen stets im Hintergrund. Daran habe sich bis heute nichts geändert.