Hamburg . Ein Probentreffen mit den Theatermachern. Weltpremiere feiern sie am 9. August beim Internationalen Sommerfestival.

Ein neues Musical in Hamburg ausgerechnet „König der Möwen“ zu nennen, das ist schon ziemlich ausgefuchst. Vor allem, wenn man zugeben muss, dass das Werk, das am 9. August Weltpremiere beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel feiert, gar kein Musical ist – sondern eine Dramödie, in der viel Musik vorkommt. So in etwa wollen es jedenfalls die Macher, der Hamburger Musiker und Pop-Dadaist Andreas Dorau, der Autor, kunstfertige Wortdrechsler, Hanseplatten-Gründer und Studio-Braun-Tourmanager Gereon Klug sowie der Regisseur Patrick Wengenroth verstanden wissen.

„Das ist kein Anti-Musical, auch keine Parodie. Wir wollen zum Begriff Musical eigentlich gar nicht Stellung ­beziehen“, erläutert Schnellsprecher Andreas Dorau bei einem Kaffee mit seinem langjährigen Kunst-Komplizen Gereon Klug während der Proben und räumt ein, dass er diese eher nicht besucht. „Mich stört die Dopplung der Information. Da tritt ein Frosch auf und singt, dass er Frosch ist. Die offensichtlich einsame Prinzessin singt, dass sie einsam ist, das habe ich auch schnell geschnallt. Ich brauche nicht alles doppelt. Bei uns doppelt sich nichts.“

Handlung ist komplex

Die Intonation, Phrasierung, Attitüde, all das sei bei ihnen nicht musicalorientiert. Und doch räumt auch Gereon Klug ein, dass die Veranstaltung für aufgeschlossene Musical-Besucher durchaus zu gebrauchen sei. „Der Titel ist so naheliegend, dass man nie darauf käme“, sagt Klug, „Auch Andreas hat kurz mit dem Gehirn gezuckt, weil er Angst vor einfachen Wortwitzen hat. Wir sind dann doch eher Fans des zweiten Lachers, nicht des ersten.“

Mehr Musik

Dorau ist der Titel in der Badewanne eingefallen. Kurz danach waren beide ohnehin verabredet, und eine halbe Stunde später stand die erste Seite. Die Songs wurden mit Musikern wie Zwanie Jonson und Gunther Buskies in gut sechs Wochen eingespielt. Die Handlung ist einigermaßen komplex. „Es geht um die Hauptperson Hans, der den Plattenladen Rillenreiter in einem hippen Szeneviertel betreibt. Er hat zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, bewegt sich in Subkulturzusammenhängen, moralisch, geistig und finanziell – und ist Möwenliebhaber“, so Gereon Klug.

Verlockendes Angebot

Das traurige Leben von Hans ändert sich, als er ein verlockendes Angebot von Hamburg Marketing erhält, den Laden zu verlegen. Ein Staatsbesuch steht an. Ein Präsident, vorher Online-Kunde, möchte im Rillenreiter in der HafenCity einkaufen. „Man wünscht sich sichere Subkultur in Laufnähe.“ Aber der Laden gehört am Ende Hamburg. Hans verliert seine Reputation und seine moralischen Maßstäbe.

Er ist so wütend, dass er sogar einen zweiten Hamburger Brand anzetteln möchte. „Da tippt ihm der König der Möwen auf die Schulter und führt ihn in den Hamburger Keller, eine Mischung aus Fegefeuer und entfesselter Pfeffersackparty“, erzählt Klug, „und hier begreift er, dass alles zusammenhängt. Oben mit unten, links mit rechts und vorne mit hinten. Subkultur kann es nur geben, wenn es Mainstream gibt.“ Der „König der Möwen“ liefert also eine Identitätssuche, und das gleich doppelt. „Es gibt noch eine Band, die im Rillenreiter auftritt und sich permanent häutet – aus mannigfaltigen Gründen, finanziellen, ästhetischen“, sagt Sprachkünstler Klug. Er beschreibt das Geschehen als „eine Identitäts-Individualitäts- und Ich-Suche.“

Ältere wollen keine Schunkelmusik

Das sei in keiner Weise autobiografisch, wehren beide energisch ab. Aber sicherlich führt es mitten hinein in ein typisches Künstlerleben in Hamburg. „Das streift natürlich die Zwänge, in denen wir uns alle befinden, weil wir hier leben. Die Gentrifizierung, die Entwicklungen in der HafenCiy. Fragen des Stadtmarketings“, ergänzt Andreas ­Dorau.

Die Songs, die parallel auf einem Album beim Hamburger Label Tapete-Records erscheinen werden, sind teilweise Score, teilweise Songs der Band, die auch deren Metamorphose nachvollziehen. Einige kommentieren eher. „Die Band will an ältere Leute ran, weil das noch Haptiker sind, also die Einzigen, die noch Tonträger kaufen. Aber die Älteren wollen keine Schunkelmusik. Sie sind unangepasst und fahren Harley und wollen Rock“, erzählt Andreas Dorau.

„Wir wollten nicht ironisch werden“

„Die Band versucht sich in Rock, der auch in der Hitparade die Wurst nicht vom Teller zieht. Die fängt gleich an, die hört gleich auf, ist wertstabil.“ Musik und Dialoge halten sich hier die Waage auf den zwei Handlungsebenen. Für den „König der Möwen“ hat das Team außer dem Regisseur Patrick Wengenroth von der Berliner Schaubühne eine ganze Reihe bekannter Schauspieler gewinnen können. An­dreas Schröders („Oh Boy“) und Eva Löbau (die Kommissarin des Schwarzwald-„Tatorts“) sind ebenso dabei wie Ex-Thalia-Ensemblemitglied Daniel Hoevels.

Die Lieder zu schreiben sei das Schwierigste gewesen. „Wir wollten nicht ironisch werden in den Songs“, sagt Dorau. Ohrwürmer sind darunter wie der Opener „Feelingsgefühle“, aber auch solche von doppelbödiger Raffinesse wie „Existieren und krepieren“ oder „Acht Euro am Tag“, die von prekären Existenzen erzählen. Sie vermitteln ein Gefühl davon, sich „Wie ein Kronkorken auf dem weiten Meer“ zu fühlen. Und wer tut das nicht?

Unvermeidliche Liebesgeschichte

Noch einige Tage bis zur Weltpremiere am nächsten Donnerstag müssen beide, die im Stück selbst nur als Nebendarsteller auftreten, weiterproben, beobachten, wie sich ihr Stoff entwickelt, was für Autoren ja nicht immer einfach ist. Dorau und Klug sind entschlossen, das auszuhalten. In „Der König der Möwen“ steckt ganz viel Hamburg – und ganz schön wenig Musical. Das betrifft auch die unvermeidliche Liebesgeschichte, wenn Hans in der Marketingmanagerin seine alte Liebe Katja erkennt. Ausgerechnet sie drängt ihm den faustischen Deal auf. Happy End? „Wir sind ja nicht bei Andrew Lloyd Webber“, sagt Klug – und grinst.

„König der Möwen“ beim Internationalen Sommerfestival, Do 9.– Sa 11.8., jew. 19.00 (nur Restkarten),
Zusatz­vorstellung: Sa 11.8., 22.00, Kampnagel, Jarre­straße 20–24, Karten zu 22,-/erm. 9- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de