Hamburg. Internationale Künstler beim Prolog zur Hamburger Kultursaison: Tanz, Diskurs, Musik und Theater auf lauschigem Gelände.

„Einer aufs Auge ist besser als acht aufs Ohr“, sagt der Kultursenator. Und wer sich an dieser Stelle schon Sorgen macht, auch angesichts des auffallend blau eingegipsten Senatorenarmes und des diesjährigen Festivalslogans „Mit Sicherheit unsicher“, den kann Carsten Brosda schnell beruhigen. Er boxt ja nicht. Er spricht, zum Auftakt des diesjährigen Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel, über optische Opulenz.

Und er mahnt – in einer Rede, die scheinbar mühelos den ganz großen Bogen von der Weltpolitik über die lokale Politik hin zu subversiver Kunst und Lieblingsliteratur schlägt, immer auf den Spuren von „White Noise“, dem weißen Rauschen –, er mahnt also, man solle wieder mehr auf „die Zwischentöne im weißen Rauschen“ hören. Ausgerechnet die Inszenierung des Theaters könne da zu einem unverstellteren Blick auf die Realität führen.

Spiel mit der Realität

„Das Spiel mit der Realität“ sei jedenfalls „besser bei uns in der Kunst als in der Politik aufgehoben“, hatte auch Festivaldirektor András Siebold vorab versprochen. Die konkrete Realität aber im „Avant-Garten“, dem wie stets lauschigen Festivalzentrum hinter den Kampnagelhallen, ist dann doch erstmal ziemlich verstellt. „Gibt es etwa keine Kanal-Bar?“ fragt ein junger Besucher erschrocken, um schließlich erleichtert festzustellen, dass in diesem Jahr bloß große Spiegelwände die Zapfhähne verdecken. Wer sucht, der findet. Manchmal eben, in der unverhofften Reflexion, erst einmal sich selbst.

Schwarzweiß
mit Zwischentönen:
Tänzer der Michael Clark Company
Schwarzweiß mit Zwischentönen: Tänzer der Michael Clark Company © dpa | Markus Scholz

Das Sommerfestival, es kommt immer als ein flirrender, prickelnder Prolog zur Hamburger Kultursaison daher. Und die Spiegelwände doppeln auch ein Publikum, das in dieser Konstellation aus bürgerlich und abgefahren sonst eher selten zusammenfindet. Da stehen sie also, die einen im hanseatischen Reeder-Blau, die anderen im Glitterflitter. Ehemalige und amtierende Senatoren inmitten der stadtweit höchsten Dichte an Hipsterschnurrbärten.

„Kunst ist ein unsicheres Terrain“

Dazwischen flaniert die Kunstfigur Juan Domínguez (mit Rauschebart), als vielplakatierter „Spitzenkandidat“ des Festivals für „klandestine Performance-Aktionen“ auf dem Gelände und in den Hallen verantwortlich. Umsonst und ohne Ankündigung. Wie die ineinander verschlungenen Leiber auf dem Erdboden zum Beispiel, hüllenlose Lebend-Skulpturen im Festivalgarten. „Huch, Nackedeis!“ kiekst eine ältere Dame – eher Fraktion Elbvororte – verzückt bei deren Anblick. „Ich brauch das nich‘“, knurrt ihr Begleiter. Die Dame schaut, als täte ihr genau das leid.

„Kunst ist ein unsicheres Terrain“, hatte Siebold zur Eröffnung gewarnt, sein Programm verspreche ein „Hoch-Risiko-Festival“. Das ist natürlich – auch – Koketterie. Es ist Siebolds fünftes Sommerfestival. Künstler aus Manila, Argentinien, Burkina Faso oder Kanada sind gekommen, „die alle an der Kunst von morgen“ arbeiten.

Politisch und gern ironisch

Verschroben und spielerisch, politisch und gern ironisch. Bevor das Publikum also ein Zombie-Karneval, ein Musical in Maulwurfsprache oder eine Installation des „Konzept-Provokateurs“ Jimmy Cauty aus der Fassung bringen könnte, die Kampnagel-Intendantin Amelie Deufl­hard fröhlich als „Mischung aus Peepshow und Miniaturwunderland“ ankündigt, kommt zunächst die Company der britischen Tanz-Ikone Michael Clark zur großen Deutschlandpremiere.

Und „To A Simple, Rock ‘n’ Roll...Song“ in der voll besetzten großen Halle K6, das schon in seiner Londoner Uraufführung das Publikum begeisterte, ist in seiner Verschränkung der Disziplinen wirklich das nahezu ideale Sommerfestival-Eröffnungsprogramm. Tanz und Pop, Video-Animation und Mode.

Kultursenator Brosda (r.) mit Gipsarm
und Kampnagel-Chefin
Deuflhard
Kultursenator Brosda (r.) mit Gipsarm und Kampnagel-Chefin Deuflhard © HA | Marcelo Hernandez

Acht Tänzer in hochgeschlossenen, hautengen Anzügen, die zugleich androgyn wie explizit wirken, bewegen sich in drei Akten zu Musik von Erik Satie, Pattie Smith und David Bowie. Es ist eine hintersinnige Reise durch die Musikgeschichte, ein raumgreifendes Spiel mit Symmetrie und Ungleichgewicht, mit formaler Strenge, das durch kraftvolle Präzision beeindruckt. Die Bühne ist leer, auf der rückwärtigen Leinwand wechseln zunächst fast unmerklich die Farben.

Im treibenden Pattie-Smith-Teil purzeln dort unermüdlich endlose Zahlenkolonnen, eine Bühnenadaption von Charles Atlas’ „Painting by numbers“. Schwarz-weiß mit Zwischentönen. In der Bowie-Hommage „My mother, my dog and CLOWNS!“ wirkt das Ensemble schließlich wie eine entrückte Vorstellung des einst verheißungsvollen Begriffs „Zukunft“. Wesen in metallischer Haut verschieben vor glutrotem Licht keck ihre Hüften. Ästhetisch ist das, nicht anbiedernd. Voll aufs Auge. Und auf die Ohren. Ein Rauschen, das die Sinne schärft statt sie zu vernebeln.

Sommerfestival-Tipp für heute: Die Gruppe Forced Entertainment war bereits zum Berliner Theatertreffen eingeladen und begeisterte Kritiker und Publikum („Beckett meets Trash-TV“). Bis Sonntag sind sie in Hamburg mit ihrem Abend „Real Magic“ zu sehen. Kamp­nagel, K1, 21 Uhr, 22 Euro, T. 270 949 49